Unschuldslamm
Guinness bestellt. Schließlich zahlte er und entschuldigte sich noch einmal für die Matschpfütze.
»Schon vergessen«, gab Ruth zurück und griff nach ihren Einkäufen. »Alles, was danach kam, war viel schlimmer.«
Eisenrauch zog erneut fragend eine Augenbraue nach oben.
»Es war mein erster Tag bei Gericht«, erläuterte sie. »Und dann gleich das. Ich war nicht darauf vorbereitet.« Vor ihrem geistigen Auge zogen wieder die Bilder aus der Gerichtsmedizin vorbei. Die gewaschene Leiche der jungen Kurdin mit den unzähligen Einstichwunden. Die Aufnahmen vom Tatort. Die Ausführungen des Notarztes über den Todeskampf von Derya.
Ruth konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. Sie schluckte und bemühte sich, ihre Erschütterung nicht zu zeigen. »Ich habe eine Tochter und einen Sohn. Beinahe im gleichen Alter wie Aras und Derya.«
Sie schaffte es noch, Eisenrauch zuzunicken, dann beeilte sie sich, durch den Seitenausgang zu kommen, um so schnell wie möglich ihr Zuhause zu erreichen. Im Rücken spürte sie seinen Blick und sie fragte sich, wie man das aushalten konnte. 57 Strafsachen vertrat er aktuell, er kam in manchen Jahren auf über 800 Fälle, hatte er erzählt. Wie schaffte man das, ohne seelischen Schaden zu nehmen?
Auszug aus der Zeugenaussage von Keram H.
Im August war ich als Kellner im Café Rafih beschäftigt. Am 25. August hatte ich Dienst bis zum Ende. Ich war der Einzige im Lokal, habe die Leute abkassiert und gegen 00.00 Uhr angefangen aufzuräumen. Ich achte darauf, dass ich pünktlich bin, ich mache keine Ausnahmen. Um Mitternacht ist Feierabend, da kenn ich nichts, ich will ja nach Hause. Es waren noch Gäste im Garten, an zwei Tischen. Als ich anfing, die Stühle hochzustellen und alle Gläser abzuräumen, sind sie gegangen. Um 0.20 Uhr war außer mir niemand mehr im Lokal. Ich habe den Garten dichtgemacht und die Rollladen heruntergelassen. Dann habe ich noch eine geraucht und dabei die Abrechnung gemacht. Das dauert nicht länger als 30 Minuten. Ich bin also ungefähr um kurz nach eins aus dem Laden und habe abgesperrt. Die genaue Uhrzeit weiß ich natürlich nicht mehr, also so plus/minus zehn Minuten. Es waren noch Leute unterwegs, ein Jogger, jemand auf dem Fahrrad, vielleicht auch noch jemand zu Fuß, keine Ahnung. An die Frau erinnere ich mich nur deshalb, weil sie bei Rot über die Heerstraße gegangen ist! Wie eine Schlafwandlerin, sie war bestimmt betrunken. Ich wollte hinterher, die Autos haben gehupt, aber dann war sie schon fast drüben. Sie hatte dunkelblondes, vielleicht schon graues Haar, schulterlang.
(Dem Zeugen wird ein Bild von Sibylle Bucherer gezeigt)
Ja, genau, das ist sie. Hundert Prozent. Sonst kann ich mich an niemanden erinnern. Das Mädchen? Keine Ahnung, habe ich nicht gesehen. Doch, an den Mercedes erinnere ich mich. Nagelneu, mit Alufelgen, getönte Scheiben, schickes Teil. Da ist eine Frau ausgestiegen. Jung, gutaussehend. Ja, sie war bestimmt Ausländerin. Keine Ahnung, wo sie hingegangen ist, ich bin auf mein Fahrrad und ab nach Hause.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN D IENSTAGMITTAG IM F EBRUAR, ZWÖLF U HR VIERZIG
Es war definitiv nicht ihr Tag, und das hatte sie gewusst, als ihre Schwester mitten im Service angerufen hatte. Um halb eins. Ruth hatte zwei Tournedos in der Pfanne gehabt, da klingelte ihr Handy. Als sie die Nummer von Regine im Display sah, hatte sie das Handy wieder in die Tasche gesteckt, einen Klumpen kalte Butter in die Pfanne geschmissen und daran gedacht, dass sie in vierzig Minuten ihre Tochter vom Hauptbahnhof abholen musste, Ende der Klassenfahrt. Aber Regine hatte nicht lockergelassen. Natürlich nicht. Im Piesacken war ihre Schwester schon immer ganz groß gewesen. Sie hatte noch dreimal angerufen und schließlich eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Die Tournedos waren fertig, Jamila arrangierte das Fleisch mit den Beilagen auf den Tellern und reichte sie Susan nach vorne durch.
Ruth hörte die Mailbox ab, und ihr wurde klar, dass sie jetzt gleich zurückrufen musste – ihr Vater war soeben vom Notarzt ins Krankenhaus transportiert worden. Während Ruth ihre Schwester zurückrief, spürte sie, wie ihre Hände unkontrolliert zitterten und ihr der Schweiß ausbrach. Sie dachte an nichts anderes als an ihren Vater und betete zu einem imaginären Gott, der nur in absoluten Notfällen existent war, dass Papa noch lebte.
»Warum gehst du nicht ans Telefon?«,
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