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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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schüttelte Ruth den Kopf.
    »Er war mal bei uns, wir haben Pizza gebacken. Jascha, Marie und Max waren auch da.«
    Jetzt fiel bei Ruth der Groschen. Es musste sich um eines der Deo-Models gehandelt haben, die an dem Abend die Küche bevölkert hatten, als sie die Nachricht bekommen hatte, dass sie zur Schöffin berufen worden war. Das war wann gewesen? Ende November?
    »Wie lange wart ihr zusammen?«, erkundigte sie sich.
    »Fünfter Dezember«, kam es wie aus der Pistole geschossen, »seit der Nikolausparty bei Marie. Ich hab’s dir erzählt.«
    Annika wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Ruth prüfend an. »Du hast es vergessen, oder?«
    Ruth wollte protestieren, aus dem Brustton der Überzeugung, denn mit wem ihre Tochter um die Häuser zog, das interessierte sie immer noch mehr als die Fischpreise bei Fernando, aber Annika kam ihr zuvor.
    »Du hast keine Ahnung. Du weißt gar nichts von mir! Du interessierst dich immer nur für deinen Scheiß«, schleuderte Annika ihr ins Gesicht, um gleich darauf wieder einen Heulkrampf zu kriegen.
    Ruth öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich darauf wieder. Stattdessen ließ sie den Motor an und steuerte nachdenklich in die Oldenburger Straße. Sie fand einen Parkplatz direkt vor dem Haus, schleppte den monströs schweren Koffer in den vierten Stock und schloss vollkommen außer Atem die Wohnungstür auf. Ohne ein Wort verschwand ihre Tochter in ihrem Zimmer. Ruth zögerte einen Moment, dann rief sie bei Jamila an und teilte ihr mit, dass sie heute nicht mehr ins Bistro kommen würde. Sie umriss ihrer Freundin kurz das Vorgefallene, auch von der Sache mit ihrem Vater hatte sie ihr noch nicht berichtet, und wie nicht anders zu erwarten, versicherte ihr Jamila, dass sie kein Problem haben würde, gemeinsam mit Susan den Laden zu schmeißen. Ruth war ihr überaus dankbar, nötigte der Marokkanerin noch das Versprechen ab, dass sie im Gegenzug den Mittwochvormittag freinehmen würde, und ließ sich dann stöhnend aufs Sofa fallen. Sie musste gedanklich so manches sortieren, was ihre Familie und ihr Privatleben betraf. Im Moment hatte sie das Gefühl, dass alles aus dem Ruder lief. Ihre Eltern, Regine und jetzt auch noch Annika – da gab es einiges an Klärungsbedarf.

B ERLIN- M OABIT, 12. G YMNASIUM, H ANSA- U FER,
EIN D ONNERSTAG IM F EBRUAR, ZWANZIG U HR ZEHN
    Der Unterstufenchor sang entsetzlich schief eine schlechte Coverversion von Leonard Cohens »Hallelujah«, so dass Ruth, die Ohren ohnehin so gut wie möglich angeklappt, Zeit hatte, die Bucherers zu beobachten und sich Gedanken zu machen. Sie saß drei Reihen hinter dem Ehepaar, schräg versetzt, und sah die Galeristin im angeschnittenen Profil. Links neben ihr saß der Mann, Quirin Bucherer, von dem Ruth lediglich den Hinterkopf und das rechte Ohr im Blick hatte, rechts neben der Galeristin saß ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Er machte die ganze Zeit über Quatsch, flüsterte hinter dem Programmblättchen Kommentare oder schnitt Grimassen. Seine Mutter flüsterte ab und zu leise zurück und strich ihm sanft über den Haarschopf. Man sah ihm an, dass er der kleinere Bruder von Valentin sein musste, er hatte dasselbe weiche Blondhaar und die dunklen Augenbrauen.
    Sibylle Bucherer sah ausgesprochen schlecht aus. Ihre Haut war unter dem Make-up fahl, ihre Haare hatten jeglichen Glanz verloren. Die Augen lagen tief in den Höhlen, das ohnehin schon schmale Gesicht wirkte mager, die Backenknochen, die der Frau etwas apart Sinnliches verliehen hatten, wirkten nur knochig. Sie litt, das war unübersehbar. Aber Derya hatte auch gelitten, dachte Ruth mitleidslos.
    Zwanzig Minuten zuvor hatte Ruth beinahe einen Schock bekommen, als sie zusammen mit Annika das Foyer des Gymnasiums betreten und am Getränkestand die Bucherers entdeckt hatte. Sie hatte ja von Staatsanwalt Hannes Eisenrauch gelernt, dass Prozessbeteiligte, Richter, Anwälte und Schöffen, keinen Kontakt mit in den Fall Involvierten haben durften. Aus Gründen der Einflussnahme. Ruth hatte gar nicht damit gerechnet, dass sie Valentins Familie heute Abend hier treffen könnte, und war nun umso mehr bestrebt, jegliches Zusammentreffen zu vermeiden.
    Es war der Tag des alljährlichen Halbjahreskonzertes in der Schule. Ein Pflichttermin für alle Eltern, deren Kinder in irgendeiner Weise musikalisch engagiert waren. Lukas hatte damals in der Big Band als Schlagzeuger gespielt. Vollkommen »bocklos«, wie er immer wieder versicherte, aber die

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