Unschuldslamm
beiden ihn total verwöhnt und mit Essen vollgestopft (und ihm sicher einige Scheine zugesteckt, darüber hatte Lukas dezent geschwiegen, aber Ruth zweifelte nicht daran).
»Natürlich nicht, was denkst du denn?« Jetzt steckte sich Regine eine Kippe an. Es war Ruth neu, dass ihre Schwester rauchte. »Natürlich machen sie eine große Show, wenn der Enkel aus Berlin da ist. Oder wenn sie dich besuchen. Aber ich sehe die beiden jeden Tag, Ruth. Jeden Tag.«
Jetzt schwiegen die beiden Schwestern. Ruth spürte, wie schwer Regine dieses Gespräch fiel. Sie verstand nur nicht, warum das so war.
»Ruth, ich schaff das nicht mehr.« Regines sonst so selbstbewusste Stimme wurde ganz dünn. »Jeden Tag fahr ich hin, jeden Tag. Es ist nicht so, dass Mama das einfordert, aber ich habe sonst ein schlechtes Gewissen. Sie sind so … Ich weiß nicht, sie werden alt und sind alleine. Es geht alles nicht mehr so einfach wie früher. Neulich habe ich gesehen, wie Papa versucht hat, eine Glühbirne auszuwechseln. Er wäre fast von der Leiter gefallen.« Ihrer Schwester stockte der Atem, und Ruth hörte, dass sie kurz davor war zu weinen. Das war untypisch für ihre Schwester, die ein Jahr ältere, die immer die resolute, toughe von ihnen beiden gewesen war. Jetzt wurde sie ganz leise. »Ich mach mir Sorgen um sie.«
»Regine, das tut mir wahnsinnig leid. Ich hab wirklich nicht gewusst …« Auch Ruth fiel es schwer, darüber zu reden. Den Gedanken, dass ihre Eltern so alt werden würden, dass sie Schwierigkeiten hätten, ihr Leben alleine zu meisten, hatte sie noch nie zugelassen. Sie hatte gedacht, es würde ewig so weitergehen. Und irgendwann würde einer umfallen oder beide. Naives Wunschdenken. Aber es hatte nur so in ihr Leben gepasst. Sie hatte sich um ihre Kinder, um ihr Bistro und um ihre Existenz gekümmert – dass sie sich vielleicht auch um die Eltern sorgen musste, passte da nicht mehr hinein.
»Du hast ja recht«, Regine wurde wieder resolut, »es hilft wirklich nicht, dass du mal ein paar Tage kommst. Aber wir müssen uns langfristig ein paar Gedanken machen, Ruthi. Das geht nicht ewig mit den beiden da in ihrem Haus.«
»Okay. Wir reden mal in Ruhe, ja? Vielleicht kann ich ja doch ein paar Tage freinehmen. Wenn dieser Prozess vorbei ist«, lenkte Ruth ein.
»Oder ich komm zu dir. Ich kann ein bisschen Veränderung gut brauchen.«
»Ist bei dir alles in Ordnung, Reggie?«, erkundigte sich Ruth ahnungsvoll. Sie hatte schon lange das Gefühl, dass das Leben ihrer Schwester nicht nur aus Sonnentagen bestand. Gerade weil diese jedes Gespräch darüber vermied.
»Frag nicht. Das willst du gar nicht wissen«, bestätigte Regine Ruths Verdacht.
»Ihr haltet mich auf dem Laufenden wegen Papa, ja?!«
Dann verabschiedeten sie sich. Ruth legte auf und sah auf die Uhr. Über das Gespräch hatte sie vergessen, zum Bahnhof aufzubrechen. Annika würde in zehn Minuten dort ankommen, wenn der ICE pünktlich war. Das würde sie natürlich nie und nimmer schaffen, zumal es am Hauptbahnhof keine Parkplätze gab.
»Bin zu spät aber unterwegs warte vorne«, setzte Ruth Annika interpunktionslos per SMS über den Stand der Dinge in Kenntnis. Sie wollte sich bei Jamila noch entschuldigen, dass sie mitten in der Stoßzeit am Mittag ausfiel, aber diese verscheuchte sie nur mit einer resoluten Geste aus dem Lokal.
Ruth bugsierte den Doblo vorsichtig durch das Tor aus dem Hinterhof. Sie fuhr im Schritttempo auf den Bürgersteig, konnte aber nicht verhindern, dass sie dort um ein Haar mit einer Walkerin zusammengestoßen wäre. Diese war schnellen Schrittes von rechts gekommen und hatte die Schnauze des Fiats mit Sicherheit aus dem Hof fahren sehen. Aber sie war wohl der Meinung, dass sie in ihrem Sportprogramm nicht behindert werden dürfe, und wich weder aus, noch verlangsamte sie ihre Schritte. Stattdessen pikste sie mit ihrem Stock gegen die Kühlerhaube und herrschte Ruth an. Diese verstand zum Glück nicht, was die Walkerin ihr an den Kopf warf, aber der Hieb mit dem Stock reichte schon, um Ruth, die im Moment nicht eben ein Ausbund an Ausgeglichenheit war, auf die Palme zu bringen. Sie trat das Gaspedal durch und ließ den Motor aufheulen, was die erschrockene Walkerin veranlasste, einen Satz nach vorne zu machen, um sich außer Lebensgefahr zu bringen. Dabei verhedderte sie sich mit ihrem eigenen Stock und wäre beinahe gefallen. Ruth, die während des Manövers den Gang herausgenommen hatte, so dass sich ihr Auto tatsächlich
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