Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
Vom Netzwerk:
zuhören.«
    Dann wurde sie plötzlich weinerlich, wodurch Ruth erkannte, dass die Fahne nicht allein von einem Glas Wein kommen konnte, das sie hier getrunken hatte.
    »Ich bin keine Lügnerin.« Sibylle Bucherers Augen suchten die ihren, und Ruth schwante, dass die Bucherer sie für eine »echte« Richterin hielt, was sie im Grunde genommen ja auch war. Vor allem aber erkannte sie die abgrundtiefe Verzweiflung dieser Frau. Sibylle Bucherer hatte einen Fehler gemacht. Einen schlimmen, unverzeihlichen und folgenschweren Fehler. Und im Moment bekam sie die volle Wucht der Buße dafür zu spüren.
    Jetzt fasste die Galeristin Ruth am Ärmel. »Und erst Recht bin ich keine Mörderin. Ich bin … ich habe Derya nicht getötet, bitte glauben Sie mir das.« Ihre Hände zitterten. Ruth fasste danach. Sie spürte jede Sehne, jeden Knochen. Die Hände der Frau waren kräftig und zerbrechlich gleichermaßen. Ruth konnte nicht vermeiden, dass sie Mitleid bekam. Sie drückte die Hand der ihr fremden Frau etwas fester. Sibylle Bucherer sah Ruth in die Augen. »Morgen ist die Verhandlung. Ich habe der Polizei gesagt, was wirklich passiert ist. Ich weiß nicht, ob man mir dort glaubt.«
    Es war Ruth außerordentlich unangenehm, sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. Gleichzeitig spürte sie die moralische Verpflichtung, die Mutter von Valentin jetzt nicht in ihrer Not stehen zu lassen, sondern ihr zuzuhören. War das schon Einflussnahme? Oder hatte Sibylle Bucherer nicht vielmehr ein Recht auf Anteilnahme?
    »Sie sind doch auch eine Mutter«, fuhr die Galeristin fort. »Sie verstehen das vielleicht.« Forschend suchte sie in Ruths Augen nach einer Bestätigung. Dann fuhr sie fort. »Ich wollte Valentin nicht verlieren. Er war so weit weg. Schon seit Jahren. Und dann kam Derya.«
    Der Blick der Frau ging jetzt in die Ferne. Ihre Arme hingen schlaff an ihr herab, Ruth ließ ihre Hand los. Sibylle Bucherer hatte nichts mehr von der strahlenden Schönheit, sie wirkte erloschen.
    »Ich habe ihr gesagt, dass sie ihn mir nicht wegnehmen soll. Mehr wollte ich nicht. Ich wusste ja, dass ich ihn teilen muss. Früher oder später. Mehr wollte ich nicht von ihr.«
    »Und?«, fragte Ruth behutsam.
    Die Augen von Valentins Mutter suchten wieder die von Ruth. »Es ist viel schlimmer geworden«, sagte sie leise. »Jetzt ist er weg. Ganz weg.«
    Ruth dachte an den jungen Mann dort draußen, seine Vitalität, seine Jugend und sein strahlendes Lächeln. Sibylle Bucherer hatte recht. Dieser junge Mann hatte sich vom Joch seiner Mutter befreit. Er lebte sein Leben. Und seine Mutter musste damit zurechtkommen, dass sie es um ein Haar zerstört hätte. Ruth hielt kurz inne und öffnete dann energisch die Tür, um hinaus in den Flur zu treten, dem Licht und den Klängen von »We are the world« entgegen, die alte Schmonzette, die aus den Kehlen der fast fünfzig jungen Menschen dort auf der Bühne aber so lebendig und vital klang, dass Ruth eine Gänsehaut bekam.
    B ERLIN- M OABIT, L ANDGERICHT, S AAL 500,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, ELF U HR FÜNFZEHN
    »Der Staatsanwalt musste Anklage erheben, so wie die Dinge lagen. Wir haben einen Mord, und wir haben einen Verdächtigen«, sagte Richterin Veronika Karst.
    »Aber die Beweise reichen doch gar nicht aus!« Ruth hielt verzweifelt dagegen. Die drei hauptamtlichen Richter, Ernst Hochtobel und sie hatten sich nach zwei Stunden Verhandlung zur Beratung zurückgezogen. Bislang war Sibylle Bucherer angehört worden sowie zwei Zeugen, die sie in der Mordnacht gesehen hatten. Eine Nachbarin und der Kellner eines Cafés in der Heerstraße. Die Aussagen der Zeugen stimmten mit denen von Sibylle Bucherer überein, und demzufolge hatte sie kurz nach eins das Gebiet um den Bahnhof Heerstraße verlassen und war, nicht mehr ganz nüchtern, nach Hause gegangen. Derya schien zu diesem Zeitpunkt noch gelebt zu haben. Während der Befragung hatte die Bucherer immer wieder Augenkontakt mit Ruth gesucht, der das äußerst unangenehm war. Was dachten die anderen Beteiligten, warum die Frau ausgerechnet immer sie anblickte? Auch mit Hannes Eisenrauch hatte Ruth ab und an Blickkontakt. Allerdings nur kurz und vermutlich nicht mehr als an den vorhergehenden Verhandlungstagen. Aber Ruth schien es, als könnten alle Anwesenden aus den Blicken herauslesen, dass sie sich einmal länger unterhalten hatten. Sie verstand jetzt die Reaktion des Staatsanwaltes, als sie ihn in der Arminius-Markthalle angesprochen hatte, nur zu gut und

Weitere Kostenlose Bücher