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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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schwor, sich niemals wieder auf ein Gespräch mit Prozessbeteiligten, von welcher Seite auch immer, einzulassen. Sie betete, dass sie die noch ausstehenden Verhandlungen durchstehen würde, ohne dass jemand mit dem Finger auf sie zeigte und sagte: »Ich habe Sie gesehen!«
    Aber jetzt saßen sie in der Richterrunde und erörterten den Stand der Dinge. Ruth war jedes Mal wieder aufs Neue überrascht, wie offen Veronika Karst die Gespräche gestaltete – sie nahm die beiden ehrenamtlichen Richter in ihren Ansichten genauso ernst wie die hauptamtlichen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit war, hatte Ernst Hochtobel ihr am Morgen versichert.
    »Sie haben ganz besonderes Glück mit der Karst«, hatte er gesagt. »Tolle Frau. Das haben wir nicht sehr oft hier. Die meisten Richter kungeln sich untereinander etwas aus, und wir sind lästiges Beiwerk.«
    »Und wie gehen Sie damit um?«, hatte sich Ruth erkundigt.
    Der Rentner hatte grimmig geguckt. »Ich beschwere mich.«
    Ja, dachte Ruth bei sich, das kannst du bestimmt gut. Beschweren. Sie wusste immer noch nicht, was sie von Hochtobel halten sollte. Er hatte einerseits erzkonservative Ansichten, die sie keineswegs teilte und die definitiv an der Grenze zur Ausländer- und Frauenfeindlichkeit lagen. Andererseits hatte er ein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl und war stets darauf bedacht, alle Aspekte eines Falles zu betrachten und die Ansichten eines jeden Beteiligten gleichermaßen wertfrei anzuhören. Außerdem nahm er sein Ehrenamt sehr ernst und stand Ruth stets hilfsbereit zur Seite.
    Auch jetzt sprang er ihr bei. »Alles, was gegen den jungen Mann vorliegt, sind Indizien. Es gibt keinen einzigen Beweis.«
    »Aber auch jetzt laufen die Fäden wieder zu Aras Demizgül«, wandte der junge Richter ein. »Das kann man doch nicht von der Hand weisen. Derya sagte zu Frau Bucherer: Ich warte hier auf meinen Bruder. Dazu haben wir die SMS auf ihrem Handy gesichert. Wir haben außerdem seine Antwort, und wir haben die Aussagen seiner Begleiter, wann er in Moabit losgefahren ist, um seine Schwester abzuholen.«
    »Aber das leugnet ja auch niemand«, argumentierte Ruth engagiert. »Er kommt an, Derya ist nicht da. Er sucht sie. Er findet sie in dem Waldstück, schwer verletzt. Er zieht sie auf den Bürgersteig auf der Suche nach Hilfe. Er ruft den Notarzt. Das klingt für mich total plausibel und nicht danach, als hätte er sie erstochen.«
    Alle schwiegen und dachten dasselbe: Aber warum sagt er genau das nicht aus? Warum schweigt er zum Tathergang? Warum plädiert sein Anwalt nicht auf unschuldig?
    »Aber was ist mit diesem schwarzen Mercedes?«, fragte Ruth schließlich in die Stille hinein.
    »Der Staatsanwalt sagt, die Polizei hat noch keine Erkenntnisse über den Halter«, sagte Veronika Karst. »Das dauert natürlich, wenn es kein Kennzeichen gibt.«
    »Zumal es der reine Zufall sein kann«, meldete sich jetzt der ältere Richter zu Wort. »Die Fahrerin hat irgendwas gesucht. Mit Aras Demizgül kann der Wagen nicht in Zusammenhang stehen. Zu dem Zeitpunkt, als diese Nachbarin, Frau …«, er blätterte in seinen Notizen, »… Schmidt-Wessels, ihn beobachtet hat, ist Aras Demizgül nachweislich noch in der Shisha-Bar in Moabit.«
    »Darf man eigentlich Auto fahren, wenn man Wasserpfeife geraucht hat?«, erkundigte sich Hochtobel.
    Ruth musste lachen und versicherte ihm, dass es sich beim Shisharauchen um reinen Tabakgenuss und nicht um Drogenmissbrauch handelte. In der Regel jedenfalls. Aras Demizgül war also durchaus in der Lage gewesen, ein Auto zu steuern. Die Polizei hatte bei ihm auch keinen Blutalkohol festgestellt. Was andererseits bedeutete, dass, sollte er tatsächlich der Täter sein, er seine Schwester bei vollem Bewusstsein getötet hatte. Da er offenbar auch keinerlei psychische Erkrankungen hatte, würde die Strafe im Fall einer Verurteilung das Höchstmaß erreichen. Aber so weit war es noch nicht. Alle im Raum anwesenden Richter hatten Ruth zugestimmt: Die Anklage stand auf tönernen Füßen.
    »Eisenrauch weiß das natürlich«, lenkte Veronika Karst ein und seufzte. »Das Schlimmste, was uns in diesem Fall passieren kann, ist, dass der Angeklagte aus Mangel an Beweisen einen Freispruch erwirkt. Dann bleibt diese furchtbare Tat ungesühnt. Das kann niemand wollen. Erst recht nicht die Eltern. Auf der anderen Seite verstehe ich dann nicht, warum sie ihren Sohn nicht dazu bringen, endlich eine Aussage zu machen.«
    »Und noch schlimmer wäre es,

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