Unschuldslamm
wir verurteilen einen Unschuldigen auf Grund der Indizien«, gab Hochtobel zu bedenken.
Der ältere Richter wiegte den Kopf. »Solange wir uns in dieser unklaren Situation, sprich einem juristischen Dilemma, befinden, wird eben kein Urteil gefällt. Wir haben noch zwei weitere Verhandlungstage angesetzt, wenn wir auch dann nicht zu einem Urteil kommen, müssen wir verlängern.«
Der junge Richter stöhnte. »Bitte nicht. Ich habe schon ein Wirtschaftsverfahren am Hals, das läuft seit einundzwanzig Tagen. Ich komme ja gar nicht mehr hier raus.«
Die anderen schwiegen betreten, aber Hochtobel bekam einen roten Hals vor Ärger und ergriff engagiert das Wort. »Entschuldigung, da muss ich mich schon sehr wundern. Was ist das denn für eine Berufsauffassung?! Wir verhandeln hier schließlich keine Dummejungenstreiche …«
Die Vorsitzende Richterin legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Das weiß auch der Kollege, Herr Hochtobel. Dafür braucht er von Ihnen keine Belehrung. Ich bin mir sicher, dass er sich seiner beruflichen Verantwortung durchaus bewusst ist.«
Hochtobel schwieg, guckte den jungen Richter aber misstrauisch an. Der beeilte sich, den schiefen Eindruck geradezurücken. »Entschuldigung. Natürlich weiß ich um die Bedeutung unseres Verfahrens. Dieses Verfahrens und aller anderen. Ich betrachte es auch nicht als Bagatelle. Das müssen Sie mir wirklich nicht sagen, Herr Hochtobel. Ich war nur … Wir sind einfach wahnsinnig überlastet hier.«
Hochtobel murmelte etwas von »Leben oder Tod«, gab aber Ruhe. Ruth bemühte sich, die Aufmerksamkeit erneut auf den konkreten Fall zu lenken.
»Was halten Sie von der korrigierten Aussage von Frau Bucherer?«
»Scheint mir plausibel.« Die Vorsitzende Richterin sah Ruth dankbar an, dass diese für den Moment die Kuh vom Eis gezogen hatte. »Schließlich hat der Kellner die Aussage bestätigt. Er hat gesehen, wie sie betrunken über die Heerstraße gewankt ist. Ich glaube kaum, dass sie in der Lage war, direkt davor das Mädchen zu erstechen, zumal das zeitlich gar nicht hinhaut. Und dass sie wieder umdreht, erneut die fünf- oder sechsspurige Straße überquert, Derya gegen deren Willen in das Wäldchen zerrt … Theoretisch ist das vielleicht möglich, aber ich glaube es nicht.«
Dem stimmten alle zu. Das Fazit dieser Besprechung war jedenfalls, dass man noch im Dunkeln tappte. Die Sache mit dem Mercedes musste abgeklärt werden, man erhoffte sich eine Aussage des Angeklagten, aber Sibylle Bucherer schied als Verdachtsperson für alle zunächst aus.
B ERLIN- M OABIT, H ANSA- U FER,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, DREIZEHN U HR FÜNF
»Lässig, Alter«, Georg und Vali klatschten sich ab.
»Was geht am Wochenende?«, fragte Georg, aber Valentin stöpselte sich die Kopfhörer schon in die Ohren, grinste und machte sich auf den Weg zur S-Bahn. Während er die Straße hinunterlief, wählte er seine Songs aus. Er nahm »Short Change Hero«, ihren Song, aus der Endlosschleife heraus und fügte ein paar andere, neue, zur Wiedergabeliste hinzu. Er hatte ein paar Sachen verpasst in den letzten Monaten. Georg hatte ihm was gebrannt, ganz cool eigentlich. Er hatte jetzt Bock auf was Neues.
Vielleicht würde er sich echt mit Georg zusammentun und um die Häuser ziehen. Er war über ein Jahr nicht mehr im Kino gewesen, vorher könnten sie bei Georg abhängen und nachher noch was trinken. Kam darauf an, was mit Jonas war. Seine Mutter saß heute in der Verhandlung. Danach würde sie sich zuschütten. Keiner würde sich um Jonas kümmern. Papa war nur noch im Institut seit der ganzen Scheiße.
Valentin kickte eine Dose in den Straßengraben. Er hörte den alten Peter-Fox-Song, »Schwarz zu blau«, und er bekam richtig gute Laune. Stadtlaune. Berlinlaune. Was-losmach-Laune.
Mal sehen, vielleicht könnte er morgen erst mit Jonas in die Skaterhalle fahren, mit dem Kleinen ein bisschen Spaß haben. Am Abend könnte Jonas bei ihm im Zimmer Minecraft zocken, und er würde mit Georg auf die Piste gehen.
Als Peter Fox von »Fatima, der süßen Backwarenverkäuferin« sang, dachte er wieder an sie. Keine würde er je so lieben wie Derya. Er hatte es versucht, er hatte versucht, sich die Mädels in der Schule anzusehen. Ob vielleicht eine dabei wäre. Aber sie langweilten ihn alle. Keine strahlte annähernd das aus, was Derya gehabt hatte. Aber scheiß drauf. Das mit den Mädchen war jetzt irgendwie nicht wichtig.
Wichtig war, dass sie seine Mutter drankriegten. Warum
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