Unschuldslamm
Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie hatte in der Kantine ihrer plötzlichen Gier nachgegeben und einen großen Teller mit Käsespätzle in sich hineingeschaufelt. Jetzt pulsierte das Blut, das eigentlich ihr Gehirn versorgen sollte, in ihrem Magen. Was zur Folge hatte, dass Ruth die Lider vor Müdigkeit zufielen und sie im Geist damit beschäftigt war, sich zu fragen, ob ihr ein Sekundenschlaf auf der Toilette wieder auf die Beine helfen würde. Die Aussagen diverser Zeugen, die in der Mordnacht in der Nähe der Teufelsseechaussee unterwegs gewesen waren, krochen durch ein Ohr in ihre Hirnwindungen und verließen diese wieder zum anderen Ohr. Unverarbeitet. Letztendlich sagten die meisten dasselbe aus. Sie hatten weder Derya gesehen noch Aras noch sonst etwas Auffälliges. Die Zeugen, die dabei gewesen waren, als Aras mit seiner blutenden Schwester auf dem Arm aus dem Wäldchen gekommen war, würden erst später, wenn nicht gar erst am kommenden Verhandlungstag aussagen. Im Moment ging es um die Zeitspanne von dem Zeitpunkt, als Sibylle Bucherer das Mädchen verlassen hatte, bis zu ihrem Auffinden durch den Bruder.
Auf Nachfrage konnten sich zwei Zeugen an den schwarzen Mercedes vage erinnern, nicht aber, ob dieser geparkt war, mit laufendem Motor gehalten hatte oder jemand ausgestiegen war. Eine Joggerin meinte sich erinnern zu können, Derya gesehen zu haben, allerdings nicht alleine, sondern gemeinsam mit einer jungen Frau, ebenfalls Ausländerin, ebenfalls jung, aber mit kürzeren Haaren. Die Beschreibung der zweiten Frau deckte sich in etwa mit der, die der Kellner des Café Rafih abgegeben hatte, blieb aber gleichzeitig sehr vage. Es war einfach zu viel Zeit vergangen.
Dann wurde ein junger Mann in den Zeugenstand gerufen, der direkt nach dem Mord keine Aussage gemacht hatte. Er hatte sich erst in der vergangenen Woche bei der Polizei gemeldet.
Nach Aufnahme der Personalien fragte die Vorsitzende Richterin ihn, warum er sich erst jetzt als Zeuge zur Verfügung stelle.
»Ich hab die Berichte in der Zeitung gesehen. Und da habe ich mich erinnert. An die Frau.«
»Aber warum erst jetzt? Warum nicht damals im Sommer? Die Zeitungen waren voll davon.«
Der junge Mann grinste verlegen. »Ich bin ein halbes Jahr nach Australien. Hatte gerade Abi gemacht. Das war mein letztes Wochenende damals, am Montag darauf bin ich geflogen.«
Ein leises Stöhnen ging durch die Zuschauerreihen.
Der Mann zuckte bedauernd die Schultern. »Ich bin seit Anfang des Jahres zwar wieder da, aber von dem Prozess hab ich nichts mitgekriegt.«
»Das erklärt natürlich alles«, wandte Veronika Karst ein. »Sie waren in der fraglichen Nacht unterwegs?«
»Ja. Ich war mit einem Kumpel biken. Wir waren im Grunewald, so crossmäßig, und sind um die Zeit heim.«
»Der Kumpel, wie Sie sagen, oder Ihre Begleitung, hat sich aber nicht bei uns als Zeuge gemeldet«, wunderte sich die Karst.
»Nee. Der wohnt in Schöneberg und ist direkt vorher abgebogen. Deshalb war ich auch nicht so schnell, als ich sie gesehen habe. Ich war gerade erst wieder gestartet.«
»Mit ›sie‹ meinen Sie das Opfer, Derya Demizgül?«
Der Mann nickte.
»Wo haben Sie sie gesehen?«
»Sie kam mir auf der Straße entgegen. Zusammen mit dem Mann. Sie sind rechts in den Wald, auf so einen Trampelpfad.«
Augenblicklich wachte Ruth auf. Das war das erste Mal, dass jemand Derya offenbar unmittelbar vor dem Mord gesehen hatte. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, und sie war hochgradig angespannt. Die gleiche Spannung hatte auch alle anderen im Saal ergriffen, sie konnte es an den konzentrierten Gesichtern ablesen.
»Was genau haben Sie dabei beobachtet? Warum ist Ihnen die junge Frau aufgefallen?«
Der Mann wand sich etwas auf dem Stuhl, und er sprach mit gedämpfter Stimme weiter. Ruth konnte an seiner Verlegenheit ablesen, dass er sich schuldig fühlte, dass er etwas beobachtet hatte, aber nicht eingegriffen.
»Na ja, zuerst mal war sie sehr schön. Und sehr auffällig. Also sie hatte diese Wahnsinns-Haare. Deshalb ist sie mir überhaupt aufgefallen. Ich hab halt hingeguckt, wie man eine schöne Frau eben anguckt.«
Die Richterin nickte. Sie musste jetzt behutsam vorgehen, den Zeugen nicht durch gezielte Fragen beeinflussen, aber dennoch das Relevante zu Tage fördern.
»Und die Frau hat zurückgeschaut?«
»Nicht wirklich. Kurz, ja. Aber ich hatte den Eindruck, sie war beschäftigt.«
»Beschäftigt. Womit? Was hat diesen Eindruck bei Ihnen
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