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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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hervorgerufen?«
    Der Zeuge musste tief Luft holen. »Ich hatte den Eindruck, sie wollte weg. Sie wollte nicht neben dem Mann laufen. Und sie wollte nicht mit ihm in den Wald.«
    Mit gutem Recht, dachte Ruth, und ihr lief ein Schauder über den Rücken. Die Vorstellung, dass die Sechzehnjährige geahnt haben musste, dass ihr etwas Schlimmes widerfahren könnte, sie aber nicht in der Lage war, sich dagegen zu wehren oder jemanden zu Hilfe zu holen, griff ihr kalt ans Herz.
    »Was haben Sie getan?«
    »Ich hab ihr hinterhergeschaut. Aber der Mann hatte sie fest umarmt, und sie hat sich nicht umgedreht und ist ja doch mit ihm mit. Also habe ich gedacht, es ist wohl schon okay … Ich wusste ja nicht …«
    Er verstummte. Auch die Richterin schwieg einen Moment, um die Information sacken zu lassen.
    »Sie würden den Mann wiedererkennen?«
    Der Zeuge zuckte erneut mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Es ist verdammt lang her. Ich weiß echt nicht mehr viel. Sie hatte halt diese Haare, nur deshalb erinnere ich mich an sie. Er war auch ein Türke. Groß, schlank, kurze dunkle Haare. Mehr weiß ich nicht.«
    Alle Augen im Saal wanderten zu Aras Demizgül. Dieser sah den Zeugen an, und auf seinem Gesicht zeigte sich ungläubiges Staunen. Entsetzen. Panik. Die Mutter von Aras hatte die Hände vor den Mund geschlagen, der Vater schüttelte den Kopf. Der Verteidiger umklammerte seinen Stift mit der rechten Hand so fest, dass das Weiße der Fingerknöchel hervorschimmerte.
    »Die Polizei hat Ihnen Fotos vorgelegt. Darauf haben Sie den Mann identifiziert«, stellte die Vorsitzende fest.
    Der junge Mann sah rasch zum Angeklagten und biss sich dann auf die Lippen. »Ja, schon. Aber so hundertprozentig … Ich weiß nicht.«
    »War es der Angeklagte, Aras Demizgül?«, insistierte die Richterin.
    »Ja«, nickte der Zeuge, »vermutlich. Er sah so aus.«
    Die Käsespätzle in Ruths Magen rumorten. Ihr wurde speiübel, und sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht sofort aus dem Saal zu stürmen. Wie konnte es sein, fragte sie sich, wie konnte es nur sein, dass Aras Demizgül der Täter war, wo sie und die meisten anderen von seiner Unschuld überzeugt schienen? Hatten sie sich alle so in ihm getäuscht?
    B ERLIN- C HARLOTTENBURG, O LYMPIASTADION,
EINE S AMSTAGNACHT IM F EBRUAR
    Er nahm Anlauf, vielleicht zehn Meter, und beschleunigte von null auf hundert, bevor er sich vom Boden abstieß. Er setzte den rechten Fuß gleich hoch an und stemmte den linken auf die gegenüberliegende Granitsäule. Fünf Schritte schaffte er so nach oben, ohne die Hände zur Hilfe zu nehmen. Dann noch einmal sechs, wobei er sich mit den Fingern in dem groben Stein festklammerte. Dann ging es nicht mehr weiter. Valentin kostete ein paar Sekunden in der Position aus, in einer Höhe von vielleicht drei Metern, bevor er sich mit gespreizten Beinen, an den Säulen rechts und links abstoßend, wieder nach unten bewegte; rasch, es war eine Bewegung, die mehr einem abgestützten Fall ähnelte. Ab der Hälfte sprang er, landete auf dem Beton, geschmeidig in der Hocke, und sprintete auf das gegenüberliegende Geländer zu. Er sprang darauf, rannte balancierend bis zum Ende. Ein erneuter Sprung, ein Satz über den Poller. Auf dem nächsten Poller landete er mit beiden Füßen, stieß sich nach oben ab und flog mit einem Rückwärtssalto herunter. Beim Aufkommen rutschte er etwas zur Seite und wäre um ein Haar mit dem Hinterkopf an den nächsten Poller geknallt. Aber er ließ sich nicht davon beirren, auch nicht davon, dass er schon außer Atem war und seine Lungen schmerzten. Sein Ziel war die Mauer an den Stadionterrassen, die wollte er heute zur Gänze erklimmen, bis er sich oben auf das Dach setzen könnte.
    Er hatte Georg abgesagt, hatte auf trinken und um die Häuser ziehen doch keinen Bock mehr gehabt. Nach dem, was diese Sergul ihm geschrieben hatte, musste er alleine sein. Die Skaterhalle war schon anstrengend gewesen, die vielen Menschen und der Lärm von den Rollen auf den Halfpipes. Er hatte Kopfschmerzen gehabt, aber Jonas hatte sich so gefreut und konnte gar nicht genug bekommen.
    Wie erwartet war seine Mom heute ausgefallen. Sie war nicht aus dem Bett gekommen. Sein Vater hatte nach dem Frühstück das Haus verlassen, hatte etwas gemurmelt von »Institut«. Dann war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, und Valentin war mit seinem kleinen Bruder allein zurückgeblieben. Wie so oft. Jonas konnte nichts dafür, und Valentin fand, es

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