Unschuldslamm
Reaktion. Was hatte er sich nur gedacht? Er kam hierher, in ein Haus voller Trauer, und brachte Unruhe und Aufruhr.
»Es tut mir leid«, murmelte er, »das wollte ich nicht. Es ist nur …«
»Schon gut«, beruhigte Herr Demizgül ihn, während er seiner Frau den Rücken streichelte und ihr ein Glas Tee reichte.
»Aras ist unschuldig. Das wissen wir. Aber bei der letzten Verhandlung …« Deryas Vater zögerte weiterzusprechen. Er sah seine Frau an, und diese verließ schluchzend das Zimmer. Erst als sie draußen war, sprach Herr Demizgül weiter. Auch ihm fiel es schwer, das konnte Valentin deutlich hören.
»Bei der letzten Verhandlung«, nahm er schließlich wieder den Faden auf, »hat ein neuer Zeuge ausgesagt. Er will gesehen haben, wie Derya …«, hier brach die dunkle Stimme des kräftigen Mannes, »… wie Derya mit ihrem Bruder in das Wäldchen gegangen ist. Sie lebte noch. Verstehen Sie?«
Valentin starrte den Mann an. Ja, er verstand. Diese Aussage legte nur einen Schluss nahe: dass Aras Derya nicht verletzt gefunden hatte. Sondern dass er mit ihr auf dem Weg in das Wäldchen gewesen war, um sie zu töten.
»Aber das kann nicht sein!« Valentin schüttelte ungläubig den Kopf. Goran Demizgül sah ihn nur stumm an. Stumm und hoffnungslos. Deshalb entschied sich Valentin, doch zu erzählen, weshalb er hergekommen war. Er erzählte von seinem Chat mit »Sergul« und was sie geschrieben hatte. Deryas Vater sah ihn an, und seine Gesichtszüge wurden plötzlich ganz hart. Am Ende von Valentins Erzählung stand er auf und reichte Valentin die Hand.
»Vielen Dank.« Das war alles.
Valentin war perplex. »Was soll ich jetzt tun? Gehen wir zur Polizei?«
»Nein.« Deryas Vater hielt seine Hand fest. Sehr fest. Er hatte Valentin mittlerweile in den Flur begleitet. »Sie dürfen nicht zur Polizei gehen, bitte. Wir wissen, wer Sergul ist. Wir kümmern uns selbst darum.«
Valentin war weniger überrascht, als er erwartet hatte. Also hatte Sergul recht gehabt, sie war eine Freundin. Wahrscheinlich eine, die Derya in den Sommerferien dort unten kennengelernt hatte, als sie mit ihrer Familie in Anatolien gewesen war.
»Wir haben einen Fehler gemacht, Valentin.«
Er stand mit Deryas Vater vor der Haustür, und dieser sah ihm nun fest in die Augen. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe nicht akzeptieren wollen, dass meine Tochter keine Kurdin war. Sie war eine Deutsche, sie hat sich hier wohl gefühlt, sie wollte ihr Leben leben. Hier. Mit ihren deutschen Freunden. Ich habe das nicht gesehen, und deshalb …« Seine Stimme versagte für einen Moment, und Deryas Vater wischte sich über die Augen.
»Es war sehr wichtig für mich, was Sie mir heute erzählt haben. Wichtig für meine Frau. Und für Aras. Vielen Dank.«
Damit öffnete er die Tür und entließ Valentin. Dieser zögerte einen Moment, aber dann ergriff ihn ein Fluchtimpuls. Er hatte nicht verstanden, was eben passiert war. Warum hatte der Mann ihm nicht gesagt, was es mit »Sergul« auf sich hatte? Wer war das Mädchen, und was hatte Herr Demizgül geschlussfolgert?
Valentin nahm vier Stufen auf einmal und sprang jeweils ab der halben Treppe. Er fühlte sich irgendwie verarscht, jetzt war er genauso klug wie zuvor. Scheiße.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, GEGEN ZWANZIG U HR DREISSIG
»Du bist wirklich das Letzte.« Tadelnd blickte Ruth zu dem Trio, das sich, in der Hoffnung, verborgen zu bleiben, im Hinterhof in die Ecke gedrückt hatte. Aber Ruth war nicht entgangen, dass Johannes sich vor ein paar Minuten heimlich durch die Hintertür verzogen hatte, durch die kurz vorher auch die beiden Jungs verschwunden waren. Sie kannte ihren Exmann nur zu gut und konnte nicht umhin, ihm unter die Nase zu reiben, wie unmöglich sie sein Verhalten fand. Eigentlich hätte sie gerade heute, an ihrem großen Fest, tolerant sein sollen, aber dass Johannes sich dazu hinreißen ließ, mit dem eigenen Sohn und dessen Kumpel einen Joint durchzuziehen, das ging ihr doch zu weit.
Ertappt sahen die drei aus ihrer Ecke zu ihr hinüber. Der Rastakopf saugte unbeirrt an dem dicken Ding, das sie sich gebaut hatten, während Lukas voll des schlechten Gewissens den Boden anstarrte. Johannes hatte immerhin so viel Anstand, sich von den Jungs zu lösen und ihr in die Küche zu folgen.
Kaum hatte er diese betreten, ging Ruth auf ihn los. »Du hast sie wohl nicht mehr alle!«
Johannes rollte genervt mit den Augen. »Mann, mach dich doch
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