Unschuldslamm
Jamila, die aus der Küche hinzutrat, sprang charmant in die Bresche. »Wow! Ich wusste gar nicht, dass Ruth eine jüngere Schwester hat.«
Regine quietschte laut und schloss auch Jamila in ihre Arme. Schon wieder zu dick aufgetragen, dachte Ruth insgeheim, freute sich aber, dass Regine gut drauf zu sein schien. Was in den letzten Jahren, so kam es Ruth vor, immer seltener der Fall war.
Jamila jedenfalls freute sich wahrhaftig, Regine wiederzusehen, und bot dieser erst einmal einen Kaffee an. Die beiden hatten sich zwei Jahre zuvor kennengelernt, als Regine mit ihrem Ehemann Martin für ein verlängertes Wochenende nach Berlin gekommen war. Regine hatte ihm den Kurztrip samt Rolling-Stones-Konzert als Geschenk zum zwanzigsten Hochzeitstag gemacht. Die Reise war ein Desaster gewesen, die beiden hatten sich nur gefetzt, Martin war irgendwann alleine losgezogen, und Regine hatte sich im Bistro bei Jamila und Ruth ausgeweint. Während Ruth wenig Empathie für ihre Schwester aufbringen konnte, weil diese sich, in ihren Augen, zur Sklavin ihres Gatten gemacht hatte, hatte Jamila sich in ihrer grenzenlosen Geduld und Weisheit der Probleme angenommen. Sie hatte liebevoll Ratschläge erteilt, die Regine, so schien es Ruth, in den folgenden zwei Jahren allesamt nicht befolgt hatte.
»Jamila«, sagte Regine soeben und rührte wild in ihrem Cappuccino, »du hattest ja sooo recht!«
»Womit?« Jamila lächelte breit, sie wusste genau, wovon Regine sprach.
»Martin«, sagte diese und sprach den Namen ihres Göttergatten mit tiefster Verachtung aus. »Ich hab ihn rausgeworfen.«
Ruth wechselte einen überraschten Blick mit ihrer marokkanischen Freundin. Diese hatte damals bestimmt nicht beabsichtigt, dass Regine ihrer Ehe ein Ende setzen würde, und sah nun ziemlich schuldbewusst drein, aber angesichts der gutgelaunten und aufgekratzten Regine fand Ruth Gewissensbisse unangebracht. Sie selbst war völlig baff über die soeben verkündigte Neuigkeit, da sie der Ehe ihrer Schwester gerade auf Grund der ungleichen Machtverhältnisse eine außerordentliche Langlebigkeit prophezeit hätte. Martin und Regine hatten als Paar ganz klar nach dem Muster »Master and Servant« funktioniert. Martin war ein fauler Pascha, der jedoch in allen Familienbelangen den Ton angab. Er dominierte die ganze Familie, war aber eigentlich ein jämmerlicher Wicht. Regine hatte ihn immer vor allen Anfeindungen von außen in Schutz genommen und nach seiner Pfeife getanzt. Es interessierte Ruth jetzt schon, warum ihre Schwester sich nach so langer Zeit doch noch aufgeschwungen und dem Idioten den Laufpass gegeben hatte.
Sie wollte eben nachfragen, als die Tür des »Paysanne« erneut aufging. Es war Lukas, der gemeinsam mit einem Kumpel ein paar große Boxen in den Laden bugsierte.
Regine sprang vom Barhocker und umarmte ihren Neffen, dem dies vor seinem Freund etwas peinlich zu sein schien. Vermutlich wegen des wenig verhüllten Atombusens, dachte Ruth amüsiert. Der Freund, ein pickliger Kerl mit einer Rastalockenmähne, die er unter eine riesige gehäkelte Mütze in den Farben Jamaikas gestopft hatte, schielte aus den Augenwinkeln auf das Tantendekolleté. Er roch streng nach Marihuana, und Ruth betete, dass die beiden Jungmänner sich auf ihrer Party zusammennehmen und um Gottes willen nicht eine Tüte nach der anderen drehen würden. Sie wusste, dass ihr Sohn ab und an einen Joint rauchte, wovon er sich trotz ihrer bemühten Aufklärung vom circa vierzehnten Lebensjahr an nicht abhalten ließ. Aber Annika, der die Gewohnheiten des älteren Bruders viel geläufiger waren, hatte Ruth stets versichert, dass Lukas nur ein »Gelegenheits-Kiffer« war, woran diese sich seitdem festklammerte.
Nun lotste sie die beiden jungen Männer zu der Ecke, in der die Anlage aufgebaut werden sollte. Es war Jamilas Idee gewesen, Lukas als DJ mit einzubinden, in der Hoffnung, dass dieser davon absehen würde, die immer gleichen Hits der Siebziger- und Achtzigerjahre aufzulegen, die schon aus Prinzip auf jeder Ü30-Party rauf- und runtergenudelt wurden.
Statt von ihrer heroischen Ehebefreiung zu erzählen, begriff Regine sofort, dass sie bei der Partyvorbereitung als tatkräftige Hilfe gebraucht wurde, und packte mit an.
Während die Jungs ihre Musikanlage anschlossen und ausprobierten, räumten und stapelten die drei Frauen zu Lukas’ musikalischer R’n’B-Untermalung Tische und Stühle, machten Platz für das Buffet und legten letzte Hand an das Fingerfood, das
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