Unschuldslamm
sie zurück ins warme Bistro zu führen. Noch in derselben Sekunde fuhr ein heißer Blitz durch ihren Körper, während Ruth alle Sinneseindrücke gleichzeitig wahrnahm – die große und kräftige Statur des Staatsanwalts, das angenehme Gewicht des Arms, der auf ihrer Schulter ruhte, die raue Wolle seines Pfeffer-und-Salz-Mantels und das würzig-frische Aftershave, nach dem er duftete. Sie verfluchte sich und wusste, dass dies ein riesengroßer Fehler war. »Mist«, dachte sie, »Mistmistmist, ich bin verknallt.«
B ERLIN- M OABIT, » S UBITO«, W ALDENSERSTRASSE,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, DREIUNDZWANZIG U HR
Als er sie reinkommen sah, wusste Valentin, dass irgendeine höhere Instanz es gut mit ihm meinte. Warum war ihm das nicht gleich eingefallen?! Er hatte die beiden ja letztens zusammen auf dem Schulkonzert gesehen. Und seine Mutter hatte den ganzen Abend herumlamentiert, dass sie die Schöffin auf dem Klo zugetextet hatte. Dass das ein Fehler war und wieso hatte sie bloß und blablabla.
Er beobachtete das Mädchen mit den mausbraunen Haaren. Ihrer Mutter sah sie irgendwie gar nicht ähnlich. Die hatte eine blonde Lockenmähne, ein bisschen hippiemäßig. Ihre Tochter dagegen hatte ganz glatte lange Haare. Und hippiemäßig sah sie auch nicht aus. Eigentlich ganz hübsch, aber überhaupt nicht sein Typ. Was gerade auch absolut keine Rolle spielte.
Sie war in Begleitung gekommen. Die eine Freundin kannte er, sie hieß Lissy oder so. Die anderen hatte er auch schon mal an der Schule gesehen, sie waren alle eine Stufe unter ihm, das wusste Valentin. Warum fiel ihm der Name des Mädchens nicht ein, verdammt.
Georg folgte seinem Blick. »Was glotzt du da rüber, Alter?«
Valentin wies mit dem Kopf in die Richtung der Mädchen. »Wie heißt die? Die mit dem grauen Shirt und den glatten Haaren.«
Georg kniff die Augen zusammen. Er hatte schon ein paar Wodka-Orange intus, während Valentin sich noch immer an seinem ersten Becks festhielt. Das letzte Mal, dass er sich die Kante gegeben hatte, war in der Nacht gewesen, in der Derya gestorben war. Trotzdem hatte er heute das Bedürfnis gehabt, etwas zu trinken, nachdem er bei den Demizgüls raus war. Das Treffen war einfach zu strange gewesen. Also hatte er Georg angesteuert, und zusammen waren sie hier gelandet. Er war kurz davor gewesen, Georg von der ganzen Sache zu erzählen, weil er irgendwohin musste mit dieser Story. Aber dann hatte er es sich verkniffen. Und jetzt kam sie hier herein. Seine Rettung.
»Annika«, sagte Georg jetzt, »die Ex von Raul. Dem Pisser.«
Valentin nickte, nahm einen Schluck von seinem Bier und ging quer durch den Raum zu der Mädchengruppe. Diese Lissy sah ihn kommen und sagte etwas zu den anderen. Dabei schüttelte sie ihre blonden Haare nach hinten und schürzte die Lippen. Daraufhin drehte sich die Mausbraune um.
»Annika?!«, fragte Valentin.
Ihre Augen wurden groß vor Verwunderung. »Hi«, sagte sie.
»Kann ich mit dir reden?«
Sie nickte. Sie sah ganz ernst aus, und er war ihr dankbar dafür, dass sie die Tatsache, dass er sie hier ansprach, nicht für einen Flirtversuch hielt. Sie ahnte wohl, dass es mit Derya zu tun hatte.
»Gehen wir raus«, sagte sie. Nahm ihre Tasche und ließ ihre Freundinnen stehen. Valentin folgte ihr.
B ERLIN- M OABIT, B OCHUMER S TRASSE,
EIN F REITAG IM F EBRUAR, KURZ VOR M ITTERNACHT
Ruth hatte es geschafft und all die Stunden einen großen Bogen um Hannes Eisenrauch gemacht. Taktisch klug hatte sie ihn als Erstes Jamila und Farid vorgestellt, und die beiden hatten den Staatsanwalt offenbar gut durch den Abend begleitet. Jedenfalls war er immer noch hier, obwohl er stets versicherte, dass er sich nun wirklich auf den Heimweg machen musste. Aber er stand in der Nähe des Tresens, sein kariertes Hemd hatte er hochgekrempelt, in der einen Hand ein Glas Rotwein, die andere gestikulierte in der Luft. Er war im angeregten Gespräch mit Max und Helena, dem Autorenpärchen. Max schrieb Krimis, und ein Gespräch mit einem Staatsanwalt versprach offenbar eine Menge interessanter Geschichten. Er und Helena waren Stammgäste des »Paysanne« von Beginn an und mittlerweile so etwas wie Freunde von Ruth.
Ruth ließ den Blick weiterschweifen zu Regine. Schon seit Beginn des Abends unterhielt sich ihre Schwester mit ihrem Ex, aber aus der Unterhaltung war irgendwann ein Flirt geworden, und mittlerweile hatte es Züge eines Vorspiels. Wäre Ruth nicht so überaus gutgelaunt gewesen, sie hätte die beiden
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