Unschuldslamm
Ansichten hatte. FKK und Sauna waren irgendwie pfui, und dass Menschen fortgeschrittenen Alters außerehelichen Verkehr hatten, war so gut wie kriminell. Dass in den »Reality«-Formaten, die Annika so gerne schaute (angeblich nur, um sich darüber lustig zu machen), jeder über jeden herfiel und die Sprache zu achtzig Prozent aus Zoten bestand, war aber völlig okay.
Nun war Ruth selbst in höchstem Maß empört darüber gewesen, als Regine gestern Nacht mit Johannes abgezogen war, aber die beiden waren erwachsen, und es ging sie genau genommen gar nichts an, was ihre Schwester und ihr Ex miteinander veranstalteten.
Außerdem war sie gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt. Hannes Eisenrauch hatte sofort reagiert, nachdem Annika und Valentin auf der Party aufgetaucht waren und über die Zeugin, die sich bei Valentin über Facebook gemeldet hatte, berichteten. Ohne weiter mit Ruth zu sprechen, hatte er den jungen Bucherer unter die Fittiche genommen, ein Taxi gerufen und war mit ihm verschwunden. Ruth nahm an, dass er zur nächsten Polizeiwache unterwegs war, um dort ein Protokoll aufnehmen zu lassen. Es machte sie schier wahnsinnig, dass sie als Schöffin partout nicht erfahren durfte, was in den Tagen und Wochen zwischen den Verhandlungen passierte. Was ihr blieb, war, sich in Geduld zu üben und zu spekulieren. Sie hoffte inständig, dass an der Aussage dieser Sergul etwas dran war, und noch viel mehr hoffte sie, dass man sie ausfindig machen konnte. Annika hatte ihr versichert, dass Facebook – am Rande der Legalität – die Daten aller Nutzer über viele Jahre speicherte, auch die jener Menschen, die ihre Accounts längst gelöscht hatten. Aber waren sie auch verpflichtet, diese der Polizei zur Verfügung zu stellen? Datenschutzrechtlich war das, was dieses »soziale« Netzwerk da veranstaltete, alles andere als in Ordnung, befand Ruth, aber in einem solchen Fall wäre die Datensammlerei natürlich extrem hilfreich.
Annika hatte ihr noch in der Nacht erzählt, dass Valentin mit seiner Geschichte bei den Demizgüls aufgelaufen war und wie Deryas Vater darauf reagiert hatte. Ruth fand es befremdlich, dass er Valentin gebeten hatte, sich nicht an die Polizei zu wenden. Wäre es nicht das Normalste der Welt gewesen, sich sofort mit den Beamten in Verbindung zu setzen und nach dieser Sergul zu suchen? Oder, wenn die Demizgüls wussten, wer die Frau war, umgehend mit dieser Information bei den Ermittlern aufzuschlagen, um wenigstens ihren Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren?
Immer wenn sie an Aras dachte, war Ruth äußerst beklommen. Sie hatte so sehr an seine Unschuld glauben wollen, hatte starke Sympathie für den jungen Mann entwickelt und sich in seine Eltern hineinversetzt. Aber je länger die Verhandlung lief, desto weniger konnte sie verstehen, dass er sich nicht zu dem Geschehen äußerte. War es nicht das Bedürfnis eines jeden Unschuldigen, sich vor Gericht zu erklären und reinzuwaschen? Und dann dieser Zeuge. Als der junge Mann ausgesagt hatte, er hätte gesehen, wie Derya mit Aras in das Wäldchen gegangen sei, hatte Ruths Herz kurz ausgesetzt. Konnte das tatsächlich sein? Oder hatte sich der Zeuge getäuscht? Aber wen hatte er dann wirklich gesehen?
Alle diese Fragen würden warten müssen bis zur nächsten Verhandlung. Aber, dessen war Ruth gewiss, sobald sie Antworten darauf erhalten hatte, würden sich neue Fragen ergeben. So war es gewesen, als sich Sibylle Bucherer kurzfristig mit ihrer Falschaussage verdächtig gemacht hatte. Plötzlich musste man die Tatnacht in ganz neuem Licht sehen. Und dann gab es noch immer so viele ungeklärte Fragen. Was hatte es mit dem schwarzen Mercedes auf sich? Würde die Polizei mittlerweile bereits den Halter ausfindig gemacht haben? War es diese Sergul gewesen, die der Kellner des Café Rafih aus dem Auto hatte steigen sehen? Oder war es eine gänzlich unschuldige Person, die rein zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen war?
Mit all diesen quälenden Fragen hatte sich Ruth in der Nacht herumgeschlagen und kein Auge zugemacht. Sie war auch aufgewühlt gewesen durch ihren fünfzigsten Geburtstag. Es hatte sie tief berührt, dass so viele Freunde gekommen waren. Sie hatte sich geliebt und beschützt gefühlt. Bis zu dem Zeitpunkt, als Annika und Valentin gekommen waren, hatte sie endlich das Gefühl gehabt, ihr Leben verliefe wieder in den richtigen Bahnen. Allein, dass sie sich in Hannes Eisenrauch verliebt hatte, das war so ein kleiner,
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