Unschuldslamm
denke, wir gehen mal lieber rein«, nahm diese die Situation in die Hand. Ihr Geburtstag würde damit wohl beendet sein.
A KALIN K ÖYÜ, S ÜDOSTANATOLIEN,
EIN S AMSTAG M ITTE F EBRUAR, ZEHN U HR
Der erste Schlag traf sie nicht unvorbereitet. Sie hätte sich also noch ducken können, ausweichen, aber sie wusste aus Erfahrung, dass das alles nur schlimmer machen würde. Feigheit machte ihren Vater noch wütender als Trotz. Sergul bemühte sich deshalb darum, demütig zu sein.
»Warum bist du nicht zu mir gekommen?«
Der zweite Schlag. Ihr Kopf flog nach links, um ein Haar wäre sie gegen den Türrahmen geknallt.
Sie gab keine Antwort. Wie hätte sie das auch erklären sollen?
Ihr Vater hatte recht, dass er sie schlug. Sie hatte es verdient.
»Wie kannst du damit leben? Und wie kannst du so lange schweigen?«
Der dritte Schlag. Die Haut ihrer Wangen brannte, aber Sergul fühlte nicht den Schmerz, sie fühlte die Erleichterung. Die Scham über das, was geschehen war, war viel schwerer zu ertragen gewesen, hatte sie viel tiefer verletzt als die Schläge ihres Vaters. Sie hatte es verdient, dass er sie schlug. Sie wünschte sich in dem Moment, dass er nicht aufhören würde, sie zu schlagen, dass er sie treten würde, sie mit dem Gürtel züchtigen, so lange, bis das Böse, das sie erlebt und getan hatte, aus ihr gewichen war.
Aber nach dem dritten Schlag hörte ihr Vater auf. Er stand vor ihr und starrte sie an. Ließ die Hand sinken und begann zu weinen. Sergul lehnte sich wie erstarrt an den Türsturz. Sie konnte sich nicht erinnern, ihren Vater jemals weinen gesehen zu haben. Sie traute sich nicht, ihn zu trösten, das stand ihr nicht zu. Sie verstand, dass sie ihm den größten Schmerz zugefügt hatte. Es war schlimmer als damals, als sie durchgebrannt war. Damals hatte er sie verbannt, hatte sie weggeschickt, aber er hatte sie als Tochter behalten. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr sicher.
Von draußen drangen die Schreie der Hühner herein. Zinar stand im Stall und schlachtete. Bozan drehte den Kopf und blickte zum Fenster hinaus.
»Goran muss das wissen. Er hat ein Recht darauf. Und Aras muss freikommen. Das weißt du wohl.«
Sergul nickte. »Soll ich zur Polizei gehen?«
Ihr Vater drehte den Kopf wieder in ihre Richtung. Er sah sie an, aber sein Blick war stumpf und leer. Die schwarzen Augen waren tiefe Löcher, aus denen seine Seele gewichen war, so kam es Sergul in diesem Moment vor. Kein Leben war mehr in ihrem Vater. Und sie war schuld.
»Nein. Wir regeln das unter uns.«
Damit ging er aus dem Zimmer und ließ sie stehen.
Die Hühner hatten aufgehört zu schreien. Und wie immer nach dem Schlachten senkte sich eine tiefe Stille über den Hof, über das Anwesen, ja über die ganze Welt. Die Stille, dachte Sergul, in der der Toten gedacht werden sollte. Die Stille, in der man Abschied nahm. Sergul dachte an die Schlaftabletten in ihrer Schublade.
B ERLIN- M OABIT, O LDENBURGER S TRASSE,
EIN S AMSTAG IM F EBRUAR, DREIZEHN U HR
Als sie den Schlüssel im Schloss hörten, sahen Ruth und Annika sich an. Annika schüttelte grinsend den Kopf, und Ruth rollte die Augen nach oben. Kurz darauf kam Regine in die Küche, warf Jacke und Tasche auf einen Stuhl und seufzte »Kaffee«.
Ruth musterte ihre Schwester kritisch. »Dafür, dass du die Nacht durchgemacht hast, siehst du gar nicht so schlecht aus.«
Regine guckte erstaunt. »Woher willst du wissen, dass ich durchgemacht habe? Wir haben geschlafen wie die Murmeltiere.«
Brüllendes Lachen aus drei Frauenkehlen dröhnte durch die Küche. Als es abgeebbt war, beschied Ruth ihre Schwester, dass sie unter keinen Umständen wissen wollte, wie die Nacht gewesen war, aber Regine wehrte ab. »Kein Wort kommt über meine Lippen.«
»Du bist echt mit Papa abgezogen?«, fragte Annika leicht angewidert, aber dennoch amüsiert. »Der hat wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank?!« Dabei sah sie um Zustimmung heischend zu ihrer Mutter.
»Kein Kommentar«, sagte diese und stellte ein Glas mit zwei in Wasser aufgelösten Aspirin vor ihre Schwester. »Mir liegt es fern, mich in Johannes’ Angelegenheiten einzumischen.«
»Und Mona?« Annika war moralisch richtiggehend entrüstet, sie hatte mit Ruth bereits darüber gesprochen, bevor Regine nach Hause gekommen war. Ruth stellte belustigt fest, dass die Generation ihrer Kinder, obwohl durch Werbung, Internet oder Fernsehsendungen in einer übersexualisierten Welt aufgewachsen, oftmals seltsam konservative
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