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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Arendt
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komplizierter Abzweig, den sie besser ignorieren sollte. Sie wusste es, rational, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass er ihr gefiel. Und mehr als das. Als der Staatsanwalt mit Valentin im Schlepptau ins Taxi eingestiegen war, hatte sie einen winzigen Stich der Enttäuschung verspürt. Wie schön wäre es gewesen, hätte sie noch ein bisschen mit ihm flirten können. Schließlich hatte Ruth sich eingebildet, dass auch er eine gewisse Faszination für sie … Nein, das war zu viel. Ein Interesse hatte. Jedenfalls hatte sie durchaus gespürt, dass er ihr manches Mal mit Blicken durch den Raum gefolgt war. Hatte sie ihn angesehen, blickte er ertappt weg. Und umgekehrt. Das Spiel lief den ganzen Abend, und sie hätte es noch weiterspielen können. Obwohl da natürlich dieser Ehering am Ringfinger seiner linken Hand war. Er war verheiratet, ganz klar. Aber dennoch lief er herum wie ein einsamer Wolf. Also ein frisch Getrennter? Das wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnte. Eine Liebschaft zu einem verheirateten Mann, der sich mit ihr über seine gescheiterte Ehe hinwegtrösten wollte!
    »Mama?!« Annika rüttelte an ihrer Schulter.
    »Sorry.« Ruth lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder in die Küche.
    »Opa ist am Telefon.« Ruth atmete auf und nahm, dankbar für die Ablenkung, den Hörer in die Hand.
    Ihr Vater war aufgeräumt und bester Laune. Er war von Kopf bis Fuß durchgecheckt worden, und man hatte ihm bescheinigt, dass er erste Alarmsignale in Richtung Herzinfarkt erhalten hatte. So weit, so schlecht. Die Ärzte aber hatten ihm Mut gemacht: Wenn er jetzt bereit wäre, kräftig mitzuhelfen, könnte er einem möglichen Infarkt vorbeugen. Er bekäme einen Stent gesetzt und müsste sich radikal umstellen: gesunde Ernährung und Bewegung. Obwohl Ruth daran zweifelte, dass ihr Vater nach ein paar Wochen der Lebensumstellung immer noch so euphorisch sein würde wie jetzt, freute sie sich doch für ihn und sprach ihm Mut zu. Sie unterhielten sich mehr als zwanzig Minuten lang, Rekordzeit für den alten Herrn. Erst dann gab er den Hörer an seine Gattin, die ihrer Tochter überschwänglich zur »ersten Lebenshälfte« gratulierte. Ja, dachte Ruth, so muss man es sehen. Vielleicht habe ich erst die Hälfte hinter mir. Wir werden immer älter, warum sollte ich nicht 98 oder gar 100 Jahre alt werden?! Da geht noch eine ganze Menge.
    Nachdem sie das Gespräch mit ihren Eltern beendet hatte, riefen noch ein paar weitere Gratulanten an. Regine legte sich aufs Ohr, Annika zog mit Freunden los, und am späten Nachmittag machte Ruth sich auf den Weg ins »La Paysanne«. Sie hatte noch in der Nacht mit Jamila beschlossen, den Laden auch am Samstag nicht zu öffnen, damit sich alle erholen konnten und sie in Ruhe aufräumen.
    Während Ruth die Reste des Feuerwerks vom Gehsteig räumte und in den Stunden danach Müllsack um Müllsack füllte, machten ihre Gedanken ausschweifende Spaziergänge. Sie gingen von ihren Eltern, die jetzt gefordert waren, ihr Leben neu zu sortieren, zu Regine, die mit Sicherheit irgendwann wieder in die Arme ihres tyrannischen Mannes zurückkehren würde. Von da kam sie auf Johannes, der Mona betrogen hatte und das sicher nicht zum letzten Mal. Wie viel Schmerz würde er seiner Frau und dem Kind noch zufügen? Ruth war dankbar, dass sie nicht mehr darauf angewiesen war, strenge Besuchsregelungen für die Kinder mit Johannes durchkämpfen zu müssen. Annika und Lukas waren alt genug, um sich mit ihrem unzuverlässigen Vater selbst zu arrangieren. Überhaupt Lukas: Wann würde seine orientierungslose Phase ein Ende haben? War sie als Mutter gezwungen, irgendwann einzugreifen? Müsste sie sich Sorgen machen, dass er als kiffender Hilfsarbeiter auf Hartz IV endete? Was war mit Annika, ihrem braven Nesthäkchen – wusste sie eigentlich immer, was diese machte, wenn sie nicht zu Hause war? Ruth bekam verdammt wenig von ihrer Tochter mit, die eigentlich schon eine junge Frau war. Hatte sie schon Sex? Längst gehabt? Wenn ja, mit wem? Und verhütete sie? Sollte sie mit ihr sprechen?Waren dies die Fragen, die sich auch die Eltern von Derya stellten? Was hatten die Demizgüls vom Leben ihrer Tochter wirklich gewusst? Sie hatten Derya in Anatolien einem anderen Mann versprochen, da musste Valentin Bucherer für sie eine Bedrohung dargestellt haben; schließlich war davon auszugehen, dass er und Derya miteinander schlafen würden. Konnte man eine junge Kurdin, die keine Jungfrau mehr war, noch

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