Unser Doktor
gegenüber so großen Vorzügen, die sie besitzt. Sie hat sich mit diesem kleinen Fehler nämlich längst in der Welt eingerichtet.«
Die Eltern hörten dem Doktor schweigend zu.
»Was ist passiert?« fragte der Doktor. »Sie setzt das Gerät an und hört etwas. Zum ersten Male. Die Tür da hat sich immer schweigend geöffnet. Nun bricht ein Geräusch in die Stille ein, diese Tür knarrt, die Scheiben klirren, die Säge draußen vollführt ein schreckliches Geräusch, das sie nie gehört hat. Sogar Schritte dröhnen plötzlich, jeder Stuhl, an den man stößt, gibt ein Geräusch von sich. Das bedeutet hören?«
Leise setzte der Doktor hinzu: »Ich kann sie vollkommen verstehen. Wir, die wir gewöhnt sind zu hören, haben so was in uns wie eine schallschluckende Wand. Sie hat das nicht. Da ist jeder Laut wie ein Hammerschlag, der sie ungeschützt trifft. Die Welt ist ihr zu laut«, lächelte der Doktor.
Das Mädchen erwiderte das Lächeln.
»Aber — «, sagte der Vater und sah zu dem Gerät hin.
»Vergiß es«, sagte der Doktor, »und quäle sie nicht. Sie hat so viel Anteil an der Welt wie ihr. Es hängt nicht vom Hören ab, was einer von dieser Welt hat.«
»Ja«, murmelte der Vater mehr gehorsam als einsichtig.
Er wollte noch einmal einschenken, aber der Doktor wehrte ab. »Ich muß weiter«, sagte er, »vielen Dank.«
Er gab dem Mädchen die Hand. Es ergriff sie dankbar. Ihr Gesicht leuchtete wieder in der vorigen Unbefangenheit.
Wir verließen das Haus.
»Na«, sagte der Doktor, als wir wieder allein waren, »das hat Sie mitgenommen, was?«
»Das gebe ich zu«, sagte ich, »ein so junges und hübsches Mädchen.«
Der Doktor lächelte. »Sie ist ein Luder«, sagte er, »haben Sie gesehen, wie sie sich hinsetzte, die Art, wie sie die Beine übereinander schlägt? Sie hört längst, was der Spiegel sagt. Ihre Schwierigkeiten sind ganz anderer Art. Ihre Ohren verbieten ihr, am normalen Leben teilzunehmen, aber ihr Körper will es.« Er überlegte und sagte dann: »Man sollte eine Anzeige aufgeben. Die Gehörlosen haben da eine Zeitschrift. Sie muß jemanden kennenlernen, der die gleiche Behinderung hat. Sie werden großartig miteinander auskommen. Sie verstehen«, setzte er rauh hinzu, »man kann sie nicht einem Bauernburschen vorwerfen. Die streichen schon um sie herum, seitdem sie sie im vorigen Sommer hier im Fluß haben baden sehen. Auf das Fleisch haben sie Appetit und natürlich auch auf das Sägewerk.«
»Sie kümmern sich wohl um alles?« fragte ich.
»Um fast alles«, lächelte er, »der Einsichtige hat die Pflicht, sich um alles zu kümmern. Nur so vermehrt man die Einsicht.« Seine Stimme wurde wieder leicht und spöttisch. »Aber die Klugen benutzen dieses Geschenk des Himmels nur dazu, die Dummen zu übervorteilen, obwohl sie einen Erziehungsauftrag haben.«
Wir bogen jetzt auf einen Feldweg ein. »Es ist eine Abkürzung«, sagte der Doktor, »halten Sie sich fest.«
Der Feldweg war vom vorangegangenen Regen noch schlammig.
»Und Sie haben den Wagen so schön gewaschen«, lachte er, »ich hätte Ihnen gleich sagen können, daß es nicht viel nützt, aber ich wollte Ihnen die Freude nicht nehmen.«
Er sah mich herzlich an.
Er ist mein Freund, dachte ich, und er zeigt es. Er hält es für richtig, es zu zeigen. Es offener zu zeigen als gestern. Wir überholten eine Frau, die einen Kinderwagen schob.
Der Doktor hielt den Wagen an und stieg aus.
»Na«, sagte er, »zur Bestrahlung?«
»Ja«, sagte die Frau, »muß ich immer noch hin?«
»Zweimal die Woche«, antwortete der Doktor und besah das Kind.
»Ich habe so wenig Zeit«, klagte die Frau.
»Sie tun’s nicht für mich, sondern für Ihre Gesundheit«, lächelte der Doktor und stieg wieder ein.
»Sie können uns nicht mitnehmen?« fragte die Frau.
Der Doktor schaltete schon wieder. »Nein«, sagte er, »ich muß nach Oosters rüber.«
Wir fuhren weiter.
»Sie geht in die Praxis«, lächelte der Doktor, »ich habe ihr eine Bestrahlung verschrieben.«
»Was hat sie?«
»Nichts«, grinste der Doktor mich an. »Sie hat nichts, nur das Kind hat etwas. Wessen Sie, die Bauern bekommen Kinder und können sich nicht darum kümmern. Dieses Kind kam nie an die frische Luft. Da habe ich der Mutter eine Bestrahlung verschrieben. Da sie das Kind nicht allein lassen kann, muß sie es mitnehmen.«
Mit Genuß setzte er hinzu: »Vier Kilometer hin, vier Kilometer zurück. Das Kind ist in drei Wochen gesund und munter geworden. Es hat
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