Unser Doktor
weinte, lautlos, durchtränkt von Jammer.
Ich stieg aus.
Ich nahm mir eine Zigarette und rauchte.
Das Haus lag dunkel, leer, schweigend da. So ist das mit den Häusern, dachte ich. Sie liegen da und sagen nichts.
Ich stand etwa eine Viertelstunde neben dem Wagen in der absoluten Einsamkeit einer Waldeinöde und wollte gerade die zweite Zigarette rauchen, als der Doktor vom Hause herkam. Seine Gamaschenbeine flogen fast.
»Bitte«, rief er, »können Sie den Wagen zurückfahren? Zu dem Kolonialwarengeschäft. Das ist das nächste Telefon hier. Rufen Sie diese Nummer an.«
Er reichte mir einen Zettel.
»Man soll einen Wagen schicken, sofort. Sagen Sie ruhig, es geht um Leben und Tod.«
3
»Es geht um Leben und Tod«, hatte der Doktor gesagt, und ich wunderte mich, welchen Schrecken seine Worte in mir auslösten, in mir, der ich glaubte, sehr gleichgültig geworden zu sein. Ich fühlte mich wie zu einem Wettkampf aufgerufen gegen den ältesten Widersacher der Menschheit, es gab die Chance, den Tod zu besiegen. Das löste eine große Erregung in mir aus.
Der Doktor lief mit fliegenden Gamaschenbeinen auf das Haus zu, während ich den Weg zurückfuhr.
Ich telefonierte nach dem Krankenwagen, ich kämpfte mit den Schwierigkeiten eines Landtelefons, und während ich meinen Spruch aufsagte, stand die Frau neben mir, der das kleine Lebensmittelgeschäft gehörte.
Sie war etwa vierzig, ein wenig formlos, fließendes, kräftiges Fleisch in buntbedruckten Stoff gespannt.
Sie sah mich ruhig an und sagte: »Hat sie es wieder getan?«
Ich verstand sie nicht, aber der Gedanke drängte sich mir auf: Wie viele verborgene Kenntnisse es auf dem Lande gibt.
Von der nächsten Stunde blieb mir ein Eindruck: Männer, die eine Frau auf einer Bahre in den Krankenwagen schaffen. Einem solchen Bild haftet etwas Katastrophenhaftes an, ein Schrecken, hinter dem weitere und tiefere Schrecken sichtbar werden, als wachse da etwas in eine allgemeine Trauer hinein. Im schaukelnden Takt sah ich ein spitzes kalkbleiches Gesicht, schweigend einem Manne zugewandt, der neben der Bahre herging. Der Wagen fuhr ab, und der Doktor kam auf mich zu. Sein Gesicht war noch wie gezeichnet von einer großen Anstrengung, die in die Stirn fallenden Haare etwas wirrer als sonst, der Blick ganz zurückgezogen.
Ich wagte nicht, ihn anzusprechen.
Wir fuhren, und er saß schweigend neben mir.
Wir hielten noch einmal bei dem Krämerladen, und er telefonierte mit dem Krankenhaus.
Nach einer Weile begann er zu sprechen.
»Geben Sie mir eine Zigarette«, bat er mich, »ich sollte es nicht tun, es ist ganz verkehrt, aber manchmal kann ich nicht widerstehen. Ich brauche sie einfach.«
Er nahm die Zigarette und tat drei, vier Züge, dann sah er mich an. Die gewöhnliche Sicherheit war zurückgekehrt.
»Ich habe Ihnen Einblicke gegeben in Krankheiten, in persönliche Situationen anderer Menschen«, sagte er leise, »das ist nicht üblich. Eine dunkle Neugier treibt Menschen dazu, Krankheiten interessant zu finden. Eine unerlaubte Neugier«, setzte der Doktor hinzu, »so verständlich sie sein mag. Krankheiten sind und bedeuten Auseinandersetzungen eines Menschen mit seinem Schicksal. Das ist seine Sache, seine Sache allein.
Wenn ich Ihnen davon erzähle, dann aus einem bestimmten Grunde.«
Er lächelte schwach. »Sie wissen ihn längst, ohne daß wir darüber gesprochen haben. Sie selber sind krank«, seine Stimme wurde ganz sachlich, als befände er sich in seinem Ordinationsraum, »lebenskrank, in einem fortgeschrittenen Stadium. Sie stehen nahe vor einem letzten dunklen Punkt, den man nicht ohne Gefahr überschreiten kann. Sagen Sie nichts«, sagte er fast streng, »Sie wissen es, und ich weiß es. Sie sind in irgendeine letzte Einsamkeit hineingeworfen. Aus der Sie heraus müssen. Ich will Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Krankheit in Relation setzen zu können und verspreche mir etwas davon. Nirgendwo ist die Lebenskraft — von der Sie fühlen, daß sie Ihnen davonläuft — besser zu sehen als an Kranken und an Krankheitsgeschichten. Ich will nicht, daß Sie mitleidig werden, ich möchte Ihren Protest wecken. Im Protest«, lächelte er, »wachsen einem die besten Kräfte zu.« Seine Stimme wurde leichter, nahm fast den gewöhnlichen belustigten Ton an. »Der Wohlstand hat bemerkenswerte Folgen, er macht unabhängig, aber er trennt vom Leben. Und nicht nur vom Leben, auch von Moral, vom guten Geschmack. Es gibt eine Menge Dinge, die sich verändern,
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