Unser Doktor
sie an die Kleinbahn.
Christine hatte sich vollkommen verändert. Sie wirkte jung, hübsch, natürlich, als habe es den gestrigen Tag gar nicht gegeben.
»Was nehmt ihr denn durch?« fragte ich.
»Den Dreißigjährigen Krieg«, antwortete sie, »wir sind gerade bei Wallenstein. Glauben Sie an Astrologie?« fragte sie mich.
»Nein«, sagte ich, »ich halte das für großen Unsinn.«
»Warum drucken dann die Zeitungen die Horoskope ab?«
Ich lachte: »Sie setzen aber auch immer hinzu: Sterne machen geneigt, aber du selbst hast dein Leben in deiner Hand.«
Sie sah mich zweifelnd an.
»Man selbst? Glauben Sie das?«
»Es ist manchmal schwer zu glauben«, murmelte ich und fühlte mich plötzlich unsicher. Ihre Augen wurden dunkler, ihr Blick abwesender.
Sie murmelte: »Ich kann nichts dafür.«
»Ich weiß es«, sagte ich leise.
Sie sah mich von der Seite an, und in ihrer Frage war nicht die Spur von Kindhaftem: »Warum sprechen Sie so nett zu mir?«
»Ich spreche so, wie ich zu jedem sprechen würde.«
Sie lächelte und lehnte sich in den Ledersitz zurück.
Ich setzte sie an der Kleinbahn ab. Sie gab mir die Hand und — machte einen Knix .
Ich winkte ihr nach. Sie stand im offenen Fenster des kleinen Zuges und winkte zurück.
Erst als der Zug entschwunden war, kehrte ich mich ab.
Die Sonne war heute kräftiger als gestern. Der Himmel zeigte fast ein Rivierablau.
Zum ersten Male hatte ich das Gefühl einer gewissen Befriedigung, das ich nicht näher erklären konnte. Es war einfach ein Sichwohlfühlen . Ich war fast geneigt zu sagen: Alle Schwierigkeiten sind nur eine Wetterangelegenheit, aber natürlich stimmte das nicht.
Ich setzte mich in den Wagen und fuhr gemächlich zurück.
Ich hatte eine Menge Menschen kennengelernt, weil ich ihre Probleme kennengelernt hatte. Wahrscheinlich lernt man Menschen aus dem einzigen Grunde nicht sehr gut kennen, weil niemand einem anderen seine Probleme zeigt. Sie verbergen sie.
Vor dem Hause des Doktors sah ich eine Ansammlung von Menschen. Der Doktor wollte gerade in seinen Wagen steigen, aber kaum sah er mich, als er seine Arzttasche wieder aus seinem Wagen herausholte, eilig zu mir herüberkam und sagte: »Ihr Wagen ist schneller als meiner. Bitte, fahren Sie, als ob Sie ein Rennen gewinnen müßten.«
Er ließ mir gar keine Zeit, Fragen zu stellen. Offenbar war er mitten aus der Praxis abberufen worden. Ich nahm das Gesicht seiner Frau wahr. Sie stand und sah mich an, und ihr Blick erst brachte mir zur Gewißheit, daß etwas Ungewöhnliches passiert sein mußte.
Während der Fahrt, in der ich meinen Wagen voll ausfuhr, erzählte mir der Doktor, daß ein Scheunenneubau eingestürzt sei. Ein Knecht läge noch eingeklemmt unter Schuttmassen.
Die Bäume der Landstraße flogen an uns vorüber.
Wir fuhren die zwölf Kilometer hinauf bis Siedmannshausen und bogen dann auf einen Feldweg ein, der an den Schienen der Kleinbahn entlangführte.
So kamen wir bis Eckede , einen kleinen Ort mit ein paar Häusern.
Ein Mann stand auf der Straße.
Er war etwas verdutzt, als er den Doktor in meinem Wagen erkannte. Offensichtlich war er auf den Volkswagen des Doktors gefaßt gewesen.
Er sagte uns kurz den Weg.
Drei Minuten später waren wir auf einem Hof, auf dem sich das halbe Dorf versammelt hatte.
»Kann ich helfen, Doktor?«
»Vielleicht«, sagte er kurz, stieg aus dem Wagen.
Ein Bauer, völlig verstört, sprach auf den Doktor ein.
Ich sah die Scheune, die Außenwände standen noch. Man bemerkte nichts Ungewöhnliches.
Aber als wir herankamen, änderte sich der Eindruck: Die halbe Kellerdecke war eingestürzt. Man sah in ein Loch hinunter. Unter Gesteinstrümmern, Balken und Erde lag ein jüngerer Mann, in einer merkwürdig verdrehten Lage. Er hatte sich auf den Rücken gelegt und sah nach oben.
Er lag ganz still, obwohl er nicht bewußtlos war. Ich fühlte seinen Blick auf uns gerichtet.
»Wir kriegen ihn nicht raus«, sagte der Bauer.
»Habt ihr es versucht?«
»Ja, sein Fuß sitzt fest. Wenn man ihn anrührt, schreit er. Den Schrei hören sie im ganzen Dorf.«
Er sah auf den Rest der Decke, die sich durchbog, als hinge sie nur an ein paar Fäden.
»Das andere kommt nämlich auch noch runter«, murmelte der Bauer unglücklich. »Keiner traut sich mehr runter.«
Der Doktor sah auf den Deckenrest. Staub rieselte in den Keller hinein. Ich sah gleich, das Ganze war wie eine Falle.
»Wollen Sie da runter, Doktor?« fragte ich.
Er sah mich fast verwundert
Weitere Kostenlose Bücher