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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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schließlich nach Hause. Er hängte sich schwer an meinen Arm, und während wir über die dunkle Dorfstraße gingen in einer Nacht, die von Bauerngerüchen durchzogen war, erzählte er mir von seiner Burschenschaft und daß er beinahe in ein Industriewerk hineingeheiratet hätte.
    Als ich zurückkam, war der Doktor in seinem Labor.
    »Er hat noch zu tun?« fragte ich.
    »Er kommt selten vor Mitternacht ins Bett«, erwiderte seine Frau.
    »Christine schläft?«
    »Sie ist in drei Sekunden eingeschlafen. Die Natur hat einige Wohltaten für Kinder. Sie gehen wie durch eine offene Tür in den Schlaf.«
    Ich saß nachdenklich da und sah dann die Frau des Doktors an.
    »Das Land hier bedrückt Sie nicht mehr?« fragte ich.
    »Nein.« Sie lächelte in vollkommener Sicherheit. »Es gibt mir Ruhe.«
    »Na«, zweifelte ich, »Sie stehen morgens um sechs auf und haben so wie Ihr Mann bis spät nachts zu tun.«
    »Aber auf dem Hintergrund von großer Ruhe«, sagte sie, »die Stadt hat etwas Erschreckendes für mich. Stadtbewohner merken das sicher nicht so, sie werden schrittweise an alles gewöhnt. Aber ich habe noch echten Schrecken vor der Stadt, vor Menschen, vor Autos, vor Ampeln, vor der Eile.«
    Sie öffnete das Fenster.
    Die Nacht lag schweigend da. Der Himmel war unbewölkt, und die Sterne waren gut sichtbar.
    »Fragen Sie mal einen Stadtbewohner, ob er weiß, wo die Sonne aufgeht. Wir wissen das, weil der Himmel sichtbar ist, weil er eine Rolle spielt.«
    Der Zufall hatte mich in dieses Haus geführt. Ich hatte Menschen kennengelernt, die einfacher waren als ich und sicher klüger. Sie waren wie im Besitze eines Geheimnisses. Mindestens der Doktor.
    Ich schlief gut und lange.
    Als ich morgens herunterkam, hatte der Praxisbetrieb längst begonnen. Christine saß am Frühstückstisch und sah mich an. Sie stand dann auf. »Ich soll Ihnen Kaffee machen.«
    »Danke«, sagte ich und fragte: »Wie soll ich sagen, du oder Sie?«
    »Du«, murmelte sie und setzte hinzu: »Sie wissen ja sowieso alles.«
    Sie ging in die Küche und machte mir Kaffee.
    Dann saß sie da und sah mir stumm zu.
    Gerade als es anfing, mir etwas unbehaglich zu werden, hörte man laute Stimmen.
    Die Tür wurde aufgerissen, und ein alter Mann stand plötzlich im Zimmer, nur mit einem Handtuch bekleidet. Er war mindestens sechzig und hatte graue Haare, die etwas wirr wegstanden wie bei einem Künstler, aber er war ein Bauer. Die Frau des Doktors war hinter ihm her und schimpfte ziemlich kräftig.
    »Stell dich nicht so an«, sagte sie, »ich habe dir gesagt, daß das eine ganz harmlose Sache ist. So ein Kerl geht mit einem Bullen um, als wäre es ein Kalb, und ich kriege ihn nicht in die Badewanne.«
    Der Alte sah mit Schrecken, daß sich noch andere im Raum befanden. Er wirkte etwas verstört und redete in einem Idiom, das ich kaum verstand. Es war das kräftigste Platt, das ich je gehört hatte.
    Er stellte sich mit dem Rücken an das Vertiko und schien nicht gewillt, diesen Platz zu verlassen.
    Der Lärm hatte offenbar den Doktor aufmerksam gemacht. Er erschien, sah mit Verwunderung die Szene und brach dann in schallendes Gelächter aus.
    »Der Düwel schall di holen, Hannes«, sagte er und japste nach Luft. » Wat willste op min Vertiko?«
    Nur mit Mühe war der Nackte zu bewegen, das Zimmer zu verlassen. Ich sah Christine an.
    Ihr Gesicht hatte sich verzogen, und dann lachte sie, zeigte ihre Zähne und war gar nicht zu beruhigen. In diesem Augenblick sah sie bildschön aus.
    Der Doktor kam wieder herein und lachte immer noch.
    »Kommen hier öfter nackte Leute rein, Doktor?« fragte ich.
    »Nee«, sagte er, »ich habe ihm Bescheid gesagt. Ich habe ihm gesagt: Hannes, für dein Alter hast du noch einen stattlichen Hintern, aber du mußt ihn nicht jedem zeigen.«
    Wieder lachte Christine.
    Der Doktor erklärte: »Er leidet an Lymphstauungen und soll eine Unterwassermassage kriegen. Aber er hat Angst vor der Badewanne.«
    »Das gibt es?« fragte ich.
    »Ja«, fuhr der Doktor trocken fort, »aus einem ganz einfachen Grunde: Er hat noch nie in seinem Leben gebadet.«
    Wieder lachte Christine.
    »Die holen zu Hause das Wasser aus einer Pumpe, und so große Waschschüsseln haben sie nicht, daß man sich hineinsetzen kann.«
    Ganz beiläufig fragte er: »Haben Sie was Besonderes vor? Wir haben Christine heute schlafen lassen, aber sie muß in die Schule.«
    »Mache ich«, sagte ich. Seitdem Christine gelacht hatte, war meine Beklemmung gewichen.
    Ich brachte

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