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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Wänden, und in zwei Jahrhunderten kommt einiges zusammen. So alt ist sie nämlich.«
    Er führte mich beiseite und zog am Glockenstrick.
    »Hören Sie«, sagte er. Er hängte sich mit seinem ganzen Gewicht an den Strick, und dann hörte ich die Glocke läuten.
    »Verzeihung«, wandte ich etwas erschrocken ein, »Sie läuten die Glocke, als ob irgendwo Feuer ausgebrochen wäre.«
    »Ach«, sagte er eigensinnig, »das ist nicht wichtig. Hören Sie«, forderte er mich wieder auf. »Sie klingt einfach nicht mehr. Sie hat ihren Ton verloren.«
    Er sah mich besorgt-fragend an. Sein Blick drückte wirklichen Kummer aus.
    »Ja«, sagte ich, »der Ton ist nicht sauber. Sie haben recht.«
    »Ich wollt’s Ihnen nur zeigen«, meinte er, lud mich ins Pfarrhaus ein und schenkte mir ein Glas Wein ein. »Der Doktor würde wahrscheinlich sagen: Na, Herr Pastor, Sie gehen mal wieder scharf ran, aber ich frage Sie: Muß ein Pastor unbedingt im Lotto spielen, um zu einer neuen Glocke zu kommen?«
    »Nein«, lachte ich.
    Der Pastor lachte auch. Sein Versuch, über mich zu einer neuen Glocke zu kommen, war nicht sehr intensiv, offensichtlich wollte er nur keine Möglichkeit auslassen.
    »Ich freue mich«, sagte er, »daß Sie beide heute so gut davongekommen sind.«
    »Besonders Ihr Freund, der Doktor.«
    »Er ist mein Freund«, sagte er ernst und drehte nachdenklich das Weinglas in seinen dicken roten Händen. »Wir haben verwandte Berufe, wissen Sie. Dienst am Menschen. Wer will denn heute noch dienen? Niemand. Jeder ist dabei, sich so schnell wie möglich zum Herrn zu machen, zum Herrn seiner Situation. Aber ein Arzt bleibt ein Diener. Und zwar im Sinne des Wortes, man kann ihn herausklingeln, zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu einer Tätigkeit, für die er nicht nur sein Wissen braucht, sondern auch seinen Glauben. Seinen Glauben wahrscheinlich mehr als sein Wissen, wenn er wirklich helfen will.«
    Ruhig setzte er fort: »Körperliche Schmerzen öffnen die Tür zur Seele. Das bietet dem Arzt große Möglichkeiten, um die ich ihn manchmal beneide.«
    Als ich abends zurückkam, war der Doktor zwar schon von seiner Besuchsfahrt daheim, aber auch schon wieder weg.
    »Er ist rüber nach Groß-Teppen«, sagte seine Frau, »da ist eine Beerdigung. Er muß sich dort sehen lassen.«
    »Sie sind nicht mit?« fragte ich.
    »Einer muß beim Telefon bleiben«, lächelte sie, »ein Arzthaus ist ums Telefon herumgebaut.«
    Sie schlug mir vor, doch ebenfalls rüberzufahren. »Die eigentliche Trauerfeier ist vorbei. Jetzt sitzen alle im Gasthaus, das ist der Brauch hier.«
    Langsam fuhr ich hinüber nach Groß-Teppen, ein Weg von fünf Kilometern. Vor dem Gasthaus fand ich viele Autos, aber auch Kutschwagen, wie sie die Bauern hier noch fahren. Ich ging hinein.
    Der Gasthaussaal war voll von Menschen in dunkler Kleidung.
    Aber nur die dunkle Kleidung erinnerte an den eigentlichen Anlaß der Zusammenkunft. Man trank, redete, und dichter Tabaksqualm durchzog den kahlen Raum.
    Der Doktor sah mich gleich und kam auf mich zu.
    »Das ist ein besonders trauriger Fall hier«, sagte er, »da hat eine Familie das zweite Kind verloren, einen Jungen von elf Jahren. Vor vier Monaten verloren sie schon ein Kind, auch einen Jungen, sieben Jahre. Er brach ins Eis ein und ertrank. Sie haben nun keine Kinder mehr und besitzen einen großen Hof.«
    Er zeigte mir den Bauern. Ein Mann, groß und breit wie ein Schrank. Er wirkte düster, stand an der Theke und trank Schnaps, als wäre es Wasser.
    Er trug kurzgeschnittene blonde Haare.
    Offenbar war er ziemlich betrunken, aber man merkte es erst auf den zweiten Blick.
    Er sah sich jetzt um, hatte den Doktor und mich im Blick. Er stieß sich von der Theke ab, kam langsam auf uns zu.
    Ich hörte, wie der Doktor seufzte.
    »Na, Heinrich«, sagte der Doktor leise.
    Der Bauer grub in seiner Jackentasche nach Zigaretten, holte eine hervor und steckte sie sich an. Er ließ keinen Blick von dem Doktor.
    »Doktor«, sagte er, »das Kind muß rüber.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst«, murmelte der Doktor.
    »Du weißt es sehr gut. Du weißt genau, was ich meine. Das Kind muß rüber.«
    Ich hatte plötzlich das Gefühl einer großen Gefahr. Der Bauer vor uns war zwar betrunken, aber offenbar wußte er genau, was er sagte. Unerbittlich sah er den Doktor an: »Ich hole mir das Kind.«
    Der Doktor sagte leise: »Das war heute ein schwerer Tag für dich, Heinrich. Man muß erst wieder ein paar Nächte schlafen.«
    »Da wird sich

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