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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Zimmer.«
    Sie hatte durch das Fenster den Lehrer gesehen, der eilig auf das Haus zukam.
    Christine folgte der Frau des Doktors ohne Eile.
    Sie hatten kaum das Zimmer verlassen, als der Lehrer hereinkam. Er war aufgeregt, starrte mich blind an, sah sich um. Sein Gesicht war hochrot, seine Schläfenader angeschwollen. »Wo ist sie?« fragte er mich. Es war wie ein Schrei. Wie er nur von einem Menschen kommt, der völlig aus der Fassung geraten ist. »Wo ist sie?« fragte er noch einmal und sah sich wild um. In diesem Augenblick kam der Doktor herein.
    »Hast du sie mitgebracht?« fragte der Lehrer.
    »Ja«, sagte der Doktor fest, »aber du wirst erst mit mir reden.«
    »Den Teufel werde ich tun«, schrie der Lehrer und wollte zur Tür hinaus, aber der Doktor hielt ihn am Arm fest. Er wandte offenbar große Kraft an.
    »Setz dich«, sagte der Doktor leise.
    »Es hat keinen Zweck, auf mich einzureden«, erwiderte der Lehrer und schüttelte heftig den Kopf, »das ist verlorene Liebesmüh’.«
    Er wurde jetzt selber leise vor Erbitterung: »Ich werde sie totschlagen.«
    Er sah den Doktor an, dann ging sein Blick zu mir, blind, ausdruckslos. Er war erfüllt von Schmerz und Empörung.
    »Was für ein jämmerlicher Mensch bist du doch«, sagte der Doktor leise, aber er meinte es so ehrlich, daß es mir kalt über den Rücken lief. Er wiederholte: »Was für ein jämmerlicher Mensch.« Der Lehrer starrte ihn an, mit hervorquellenden Augen.
    »Ja, du hast richtig gehört«, sagte der Doktor, der seine eigene Anstrengung zurückhielt, »deine Empörung, deine Erbitterung wirken nicht auf mich.«
    Er fuhr ihn plötzlich an: »Setz dich.«
    Der Lehrer tat es fast willenlos.
    »Jetzt hörst du mir einmal zu«, sagte der Doktor fest und holte tief Atem. »Du gehörst zu jenen bürgerlichen Menschen, die den Kontakt mit dem Leben völlig verloren haben. Ich meine die Leute, die selber vergessen haben, wie man falsch von richtig unterscheidet, und die sich an allgemeine Ansichten halten, die man dann die sogenannten bürgerlichen Ansichten nennt. Danach haben Menschen zu sein, wie sie sein sollen, eine Tochter hat wohlerzogen zu sein, sie lernt Klavier spielen, hält den Mund, wenn Erwachsene reden, und macht einen Knicks, wenn man sich von ihr verabschiedet. Sie hat wohlgeraten zu sein, nicht zu hübsch, aber auch nicht zu häßlich, sie muß gehorsam sein und geordnete Ansichten haben. Ein solches Kind wird jeder loben, und darauf bist du scharf.«
    Er machte nur eine Pause, um Luft zu holen. »Kinder sind Glückssache, mein Lieber. Sie können aussehen wie muntere farbige Abziehbilder aus einem Familienkalender, aber sie können auch ganz anders sein.« Er hob die Stimme: »Aber auf jeden Fall sind es Menschen, die unsere Liebe verdienen. Christine ist nicht böse, sie ist unglücklich. Ihr Unglück ist so groß, daß deine Phantasie nicht ausreicht, sich eine Vorstellung davon zu machen.«
    Der Lehrer sank ein wenig in sich zusammen.
    »Überschätz das doch nicht«, fuhr der Doktor fort, »diese paar Geschichten mit Männern. Ich will dir etwas sagen, was dich in Erstaunen versetzen wird: Sie ist unberührt.«
    Der Lehrer sah hoch.
    »Es hat sie nicht berührt«, sagte der Doktor, »es hat gar nicht den Einfluß, den du der Sache beimessen willst. Es ist viel weniger wichtig, als du glaubst.«
    Der Lehrer holte tief Luft.
    Der Doktor wurde leichter im Ton, als sei das Schlimmste überstanden. »Es spielen sich einige Dinge jenseits aller bürgerlichen Vorstellungen ab, und glaube mir, es sind die wichtigsten. Und die natürlichsten.«
    Kühl und entschieden setzte er hinzu: »Christine schläft heute bei uns.«
    »Gib mir was zu trinken«, murmelte der Lehrer.
    Der Doktor schenkte ihm ein. Der Lehrer trank, ließ sich wieder einschenken und schien in eine Betäubung gefallen zu sein, aus der er nicht mehr herauskam.
    Dann sagte er plötzlich leise: »Ich bin ein elender Mensch, ich weiß es.«
    Er richtete seinen hilflosen Blick auf mich. »Das Land hier ist mein Unglück. Ich habe in Marburg studiert, dann in Hamburg und in Berlin und bin nun hier und unterrichte Bauerntrampel, die Mühe haben, das Alphabet zu begreifen.« Seine Augen schwammen plötzlich in Tränen. »Ich habe mir mein Leben anders vorgestellt«, murmelte er.
    »Das tun die meisten Menschen«, sagte der Doktor, »aber es ist schlecht zu verlangen, daß sich die Wirklichkeit an die Vorstellungen hält, die jemand vom Leben hat.«
    Ich brachte den Lehrer

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