Unser Doktor
Er berichtete ganz sachlich.
»Deine Mutter hatte die gleiche irrsinnige Angst im Blick. Sie war weiß wie eine Zeitung. Dein Vater hatte Angst um seine Frau, deine Mutter hatte Angst um dich. Sie sagte — wenn man das überhaupt sagen nennen konnte — , es war ein Flüstern, eine Sache zwischen Schmerz und Sprache: >Etwas nicht in Ordnung mit dem Kind?<«
Der Doktor machte eine Pause.
Das Gesicht im Rückspiegel war unberührt.
»Im Leib deiner Mutter habe ich dich gedreht. Ich bin der erste Mensch, der dich berührt hat. Ich brachte dich heraus. Ich legte dich auf den Tisch. Wir hatten ungefähr eine Minute mit dir zu tun. In dieser Minute sah niemand von uns auf deine Mutter, die Frau Wingst nicht und ich nicht.«
Mein Blick klebte am Rückspiegel. Ich sah ein Stück Kinderstirn, ein Auge, ihre Nase, eine Ecke ihres Mundes.
Da bewegte sich nichts.
»Als ich mich umwandte, lag deine Mutter in einer schweren Blutung. Das Blut floß aus ihr heraus. Und in der Tür stand dein Vater. Die Wingst schob ihn sofort hinaus, denn jetzt hatte ich zu tun, jetzt brach mir selber der Schweiß aus. Schließlich war alles vorbei, und wir mußten deinen Vater suchen.«
Seine Stimme veränderte sich nicht im geringsten, als er das Ungeheuerliche sagte: »Wir schnitten ihn gerade noch rechtzeitig vom Deckenbalken ab. Zwischen Wohnzimmer und Küche. Später schraubte dein Vater einen zweiten Haken in den Deckenbalken, um für dich eine Kinderschaukel anzubringen.«
Im Rückspiegel war das Gesicht verschwunden.
Es war einfach aus Angst, daß ich mich umwandte.
Christine lag auf dem Rücksitz, das Gesicht gegen die Polster gedreht. Sie weinte nicht, sie lag ganz ruhig da.
»Lassen Sie«, sagte der Doktor ruhig. Er sagte kein Wort mehr und fuhr den Wagen nach Hause.
5
Als wir vor dem Hause des Doktors angekommen waren, stieg das Mädchen nicht aus. Es saß im Fond des Wagens und rührte sich nicht. Nur der Blick Christines hatte das Ausdruckslose verloren. Blanke Verzweiflung war darin zu sehen, gemischt mit einer Ironie, die ihr selber kaum bewußt war.
Ihr Vater wird sie wieder schlagen, dachte ich, und das ganze Gerede des Doktors ist dummes Zeug. Er hat ihr einen Vater vorgeführt, der von Liebe geschüttelt wurde. Aber er wird seine Tochter jetzt verprügeln. Der Doktor mochte meine Gedanken spüren. Er wandte sich langsam um, sah Christine an.
»Menschen unterliegen Wandlungen«, sagte er, »sie gehen Wege, die ihnen nicht zum Vorteil sind. Auch Eltern machen da keine Ausnahme.«
Er lächelte: »Eltern stehen lange Zeit wie auf einem Sockel, wie Denkmäler, die zu bewundern sind. Aber es kommt immer der Tag, an dem sie von dort herunter müssen.«
Ich weiß nicht, ob Christine ihn begriff.
Sie sagte nur: »Ich gehe nicht nach Hause.«
»Das sollst du auch nicht. Komm mit herein.«
Wir gingen alle ins Haus.
Mich bewegte die Geschichte mehr, als ich selber wußte.
Der Doktor, klein, mit seinen dreckbespritzten Gamaschen, im lebhaften, hüpfenden Gang wie gewöhnlich, betrat das Wohnzimmer.
Seine Frau schien es nicht ungewöhnlich zu finden, daß Christine mit hereinkam. Sie zeigte mit keiner Geste irgendeine Überraschung. Sie lachte, streckte Christine die Hand hin.
Sie spielen großartig zusammen, der Doktor und seine Frau, dachte ich.
»Was willst du haben?« wandte sich der Doktor an Christine.
»Einen Schnaps«, stieß sie hervor.
Gleichmütig drehte sich der Doktor zu mir um. »Machen Sie ihr was zurecht?« fragte er mich und grinste etwas. »Tut Ihnen vielleicht auch gut.« Leicht setzte er hinzu: »Ich gehe mich umziehen. Ich bin erst richtig zu Hause, wenn ich meine Gamaschen los bin.«
Er ging hinaus.
Ich ging an den Barschrank und sah Christine fragend an.
Sie stand immer noch mitten im Raum wie angewurzelt, klein, kindhaft, mißhandelt. Sie sagte nichts, und ich schenkte ihr einen Wacholderschnaps ein.
Mir selber nahm ich auch einen, trank ihn gleich und spürte, wie er mich belebte.
Christine tat es mir nach. Für mich war. sie wirklich ein Kind, obwohl ich sie halbnackt gesehen hatte. Aber die Situation in der Kabine des Elbkahns, so eindeutig sie war, war doch ein Irrtum. Sie sagte nichts aus über das Mädchen Christine. Sie war nicht bezeichnend für sie.
Bezeichnend war, wie sie jetzt dastand, das Schnapsglas hilflos in der Hand, ein Kind in absoluter Einsamkeit, die sich mir fast quälend mitteilte.
»So«, sagte die Frau des Doktors, »und jetzt kommst du mit rauf in mein
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