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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Zärtlichkeit aneinander hängt. Aber es war immer etwas dabei — «, er suchte nach Worten, »etwas Trauriges, Düsteres. Das Volk auf dem Lande empfindet ganz natürlich, man hat die beiden nie gemocht. Die Gerüchte schliefen nie ein, bis heute nicht.«
    Er sah mich an: »Wissen Sie, was das heißt, ein so schreckliches Geheimnis über dreißig Jahre zu bewahren?« Er lachte auf: »Das haben sie jedenfalls geschafft. Die Vorsicht ist ein Teil ihres Wesens geworden. Sie waren stärker als alle anderen. Und jetzt?« Langsam fuhr er fort, »jetzt droht ihnen eine Gefahr, mit der sie nie gerechnet haben. Die geistige Verwirrung der Frau. Daß sie nicht weiß, wohin sie geht und was sie redet.«
    »Das ist wirklich eine unheimliche Geschichte, Doktor«, sagte ich, »fühlen Sie sich verpflichtet, das zu melden?«
    Er schwieg eine ganze Weile.
    »Auch Morde verjähren«, meinte er schließlich, »und ich bin kein Richter, ich bin Arzt.« Er setzte leicht hinzu: »Außerdem wäre es für jeden Rechtsanwalt ein leichtes, sie herauszupauken. Denn was für einen Wert hat eine Aussage, die in geistiger Verwirrung abgegeben wird?«
    »Sie meinen also, es wird nie herauskommen?«
    »Ich meine«, sagte er ruhig, »daß es nicht wichtig ist, ob es herauskommt.«
    »Aber das Gesetz«, widersprach ich heftig.
    »Das Gesetz«, lächelte er, »straft auf seine Weise, das Leben straft auch. Ich weiß nicht, was härter straft, das Gesetz oder das Leben.«
    Er schwieg, bis wir zu Hause waren.
    Ich sah die beiden alten Leute vor mir wie ein Bild, das ich
    nicht los wurde. Wie sie nebeneinander standen, so eng, daß keine Luft zwischen ihnen war.
    Als wir zu Hause ankamen, war die Tochter des Doktors aus ihrem Internat in Hamburg angekommen.
    Ein siebzehnjähriges Mädchen stürzte aus dem Hause, als habe es den Wagen erwartet.
    Sie war bildhübsch und lachte, als sie ihren Vater umarmte.
    »Tag, Helga«, sagte er und küßte sie.
    »Vater«, sagte sie, »trägst du immer noch die häßlichen Wickelgamaschen?«
    »Warum soll ich abschaffen, was sich so bewährt hat?« lachte der Doktor ungerührt.
    »Du gibst einfach kein gutes Bild ab«, erklärte Helga und sah dann mich an.
    Sie streckte mir ihre Hand hin. »Ich habe schon gehört, daß Sie da sind, guten Tag.«
    Ich sagte auch guten Tag und war dann nicht mehr wichtig.
    »Du solltest mal die Ärzte in Hamburg sehen«, sagte Helga, »die sehen fabelhaft aus.«
    »Aber sie werden auch ihre Probleme haben«, lächelte der Doktor, »und daß sie fabelhaft aussehen, wird ihnen dabei nicht viel helfen.«
    Es wurde ein richtiger Familienabend.
    Der Junge wollte unbedingt mit mir Schach spielen.
    »Ich will nämlich Politiker werden«, sagte er, »und die spielen alle Schach.«
    »Ich wäre mehr für einen seriösen Beruf«, grinste der Doktor.
    »Will er nicht Arzt werden?« fragte ich.
    Der Junge sah mich überlegen an. »Ich bin doch nicht verrückt. Immer nachts raus.«
    »Der kommt morgens schon schwer raus«, lachte seine Mutter. Sie sah fröhlich aus. Sie hatte die ganze Familie um sich , versammelt, was offenbar selten genug vorkam.
    Helga lümmelte sich auf dem Sofa und gab Internatsgeschichten zum besten.
    »Weißt du, Vater«, sagte sie und kaute Pralinen, »daß es Mädchen bei uns gibt, die siebzehn sind und nicht einmal aufgeklärt? Die Eltern sagen ihnen einfach nichts. Die kommen immer zu mir und sagen: Du bist doch Arzttochter, erzähl uns mal was.«
    »Tust du das?« fragte die Mutter etwas erschrocken.
    »Natürlich«, erwiderte sie mit großer Selbstverständlichkeit, »ich erzähle ihnen alles, was sie wissen wollen, und sie helfen mir dafür bei den Schularbeiten.«
    Der Doktor lachte.
    Helga sah dann mich an. »Wollen Sie lange hier bleiben? Hier ist doch überhaupt nichts los. Ich war neulich im Theater und habe Macbeth gesehen.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich vorsichtig, »was ich hier so kennenlerne, ist auch nicht gerade langweilig.«
    »Ach nee«, meinte Helga und sah mich zweifelnd an, »hier ist doch alles so immens rückständig.«
    Im schönsten Erzählen und Trinken klingelte das Telefon.
    Die Frau des Doktors seufzte. »Wenn ich nur einmal sagen könnte, du bist nicht da oder du hast keine Zeit.«
    »Wir können es nicht sagen«, murmelte der Doktor und hob den Hörer ab.
    Das Gespräch war sehr kurz und endete damit, daß der Doktor sagte: »Ich komme.«
    Er legte den Hörer auf. Er stand da, sehr ernst, ganz abwesend.
    Seine Frau kannte jede Regung an

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