Unser Doktor
Er lachte etwas auf, aber die Unruhe war nicht zu überhören. »Andauernd will sie in die Kirche, obwohl sie seit dreißig Jahren nicht dort war.«
»Seit dem Tode ihres Vaters, ja«, sagte der Doktor.
Der Mann schluckte, sah seine Frau an und dann den Doktor.
»Sprach sie darüber?« fragte er. Er stand ganz still, mit hängenden Armen, aber ich wußte plötzlich, daß der Mann voll trostloser Aufgeregtheit war. »Es geht bei ihr vieles durcheinander«, sagte er, »sie redet und weiß nicht, was sie redet. Man kann sie nicht verantwortlich machen.“
»Niemand tut es«, entgegnete der Doktor leise und behielt den Mann im Blick.
Der faßte die alte Frau behutsam an. Es war eine Bewegung, in der sich vollkommene Zärtlichkeit ausdrückte.
»Komm«, sagte er leise, »geh ins Haus.«
Aber die Frau rührte sich nicht.
»Bitte«, flüsterte der Mann, »du bist doch müde. Geh ins Bett, schlafe.«
»Ich muß Vater sprechen«, murmelte die Frau, und in ihrem Blick sah ich jetzt Angst.
»Du kannst ihn nicht sprechen, das weißt du doch«, sagte der Mann mit großer Anstrengung. »Bitte«, wiederholte er leise, »geh ins Haus.«
Ich fühlte plötzlich, es war wie ein Zweikampf. Ich nahm an einer aufregenden Sache teil, ohne daß ich genau wußte, worum es sich handelte.
»Wir dürfen den Doktor nicht länger belästigen«, murmelte der Mann, »du rennst weg, und irgendwelche Leute müssen dich dann zurückbringen.«
Es war ein Vorwurf, aber in der gemäßigtesten Weise, es war fast Demut darin.
»Es machte mir nichts«, sagte der Doktor.
Die Frau, wie endlich bezwungen von der Stimme ihres Mannes, ging in das Haus und verschwand.
Ihr Mann folgte ihr mit den Blicken, bis er sie nicht mehr sah. Aufatmend wandte er sich dem Doktor zu.
»Vielen Dank, Doktor.« Unsicher fuhr er fort: »Darf ich Ihnen das Benzin ersetzen?«
Der Doktor schüttelte den Kopf.
Der Mann atmete schwer. »Wir schlachten bald«, murmelte er, »ich werde Ihnen etwas hinüberschicken.«
»Das ist nicht nötig«, sagte der Doktor.
»Warum wollen Sie es nicht?« fragte der Mann. »Es ist doch nichts dabei, wenn Sie so etwas annehmen.« Er hob seine Stimme fast ins Aggressive. »Es gibt doch keinen Grund, so etwas abzulehnen.«
»Ich möchte es nicht«, sagte der Doktor leise, aber fest.
In diesem Augenblick kam die alte Frau aus dem Haus zurück.
Ich sah sofort, daß sie hellwach war. Sie kam heran, sah verwundert aus und lachte.
»Hallo, Doktor?« fragte sie, »was machen Sie denn hier?«
Ich war verblüfft.
Der Doktor lächelte: »Ich kam zufällig vorbei«, sagte er.
Die Frau sah ihren Mann an: »Warum sagst du mir nichts? Ich hab’ wohl geschlafen.«
»Ja«, antwortete der Mann leise und ließ die Schultern hängen.
»Wir müssen los«, sagte der Doktor und wollte in den Wagen steigen.
»Sie mögen keinen Kaffee?« fragte die Frau, »kommen Sie doch herein.«
»Ich habe leider keine Zeit. Sonst gerne«, erwiderte der Doktor und stieg ein. Ich nahm neben ihm Platz.
Er fuhr los, und ich blickte zurück. Die beiden alten Leute standen dicht nebeneinander. Der Mann berührte die Frau am Arm. Es war ein Bild großer Herzlichkeit. Beide sahen uns nach.
Ich atmete tief auf.
»Doktor«, fragte ich, »was war denn das? So was habe ich noch nie erlebt.«
»Sie ist wieder zu sich gekommen«, sagte der Doktor, »sie verliert ihren Verstand und findet ihn wieder. Es ist eine reine Alterserscheinung.«
Er schwieg, und ich wußte, er hatte nicht alles gesagt.
Ich behielt ihn im Blick. Er spürte es und sprach weiter: »Sie haben es sicher gemerkt, daß mehr hinter der Sache steckt. Es ist eine unheimliche Geschichte. Vor dreißig Jahren wurde der Vater dieser Frau von einem fallenden Balken in seiner Scheune erschlagen. Seine Tochter heiratete den Knecht. Es hat damals eine genaue Untersuchung stattgefunden, ob der Tod des Vaters ein Unfall war oder — Mord.«
»Mord?« fragte ich erschrocken.
»Man wußte, daß seine Tochter mit dem Knecht ein Verhältnis hatte, und man wußte auch, daß der Vater dagegen war.
Der Verdacht lag nahe, daß der Knecht den Bauern erschlagen hatte. Es gab sogar einen Prozeß, aber er endete mit einem Freispruch. Es war einfach nichts zu beweisen.«
»Doktor«, sagte ich, »was wir da heute erlebt haben — «
Er nahm mir das Wort aus dem Munde: »Ist so gut wie ein Geständnis.«
Er hob die Schultern.
»Ich kenne diese beiden seit langem. Ich habe selten ein Ehepaar gesehen, das mit größerer
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