Unser Doktor
Problemen fertig, wenn sie wollen. Das war gerade ein schönes Beispiel.«
Er fing plötzlich an zu pfeifen, was mich sehr verwunderte. Dann sang er sogar.
»Kennen Sie das?« fragte er mich, »das Lied von der Witwe Kringelein , die ließ des Nachts nur fremde Männer ein —?«
Ich kannte es nicht.
Wir sangen es, schließlich sogar zweistimmig.
»Sie haben eine gute Stimme«, lobte mich der Doktor, »und Sie sind eines schönen Gefühls fähig.«
Diese Versicherung beruhigte mich sehr. Sie freute mich noch, als ich schon im Bett lag.
Am nächsten Tage nahm mich der Doktor wieder mit.
Allmählich kannte ich die Straßen und die Dörfer. Es stellte sich das Wohlbehagen des Vertrautseins ein.
»Na«, sagte der Doktor und sah mich von der Seite an, »Sie fühlen sich auch wohler.«
»Ja«, sagte ich ehrlich, »die Stadt macht leicht krank, aber das Land heilt. Das Wohlbehagen kommt offenbar aus der Erde.«
»Erde beruhigt«, meinte der Doktor und lächelte. »Das Land hat einen anderen Umgang mit Zeit. In der Stadt wird die Zeit mit dem Messer kleingehackt, hier hat sie ihren eigentlichen ruhigen Ablauf.«
Der Doktor hielt vor Häusern und auf Bauernhöfen. Er behandelte offene Beine, Zuckerkranke, gab Leberspritzen, legte Verbände an. Es war gegen sechs, als wir zurückfuhren.
Wir waren auf menschenleerer Landstraße, als der Doktor plötzlich den Wagen anhielt.
Er blickte aus dem Fenster, und ich folgte seinem Blick.
Nicht weit entfernt in der Wiese stand eine alte Frau. Sie stand da, wie Wild steht, überrascht, regungslos. Die Frau war ungefähr siebzig.
»Martha«, sagte der Doktor, »was machst du denn hier?«
Die Frau rührte sich nicht.
Der Doktor stieg aus und ging auf sie zu.
Die Frau blickte ihm entgegen, und ich begriff plötzlich, daß sie nicht bei Verstand war.
»Weißt du, wo du bist?« fragte der Doktor, »du bist ungefähr zehn Kilometer von zu Hause weg.«
Die Frau sah ihn ausdruckslos an.
»Erkennst du mich, Martha?« fragte der Doktor.
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Du wirst mich doch kennen«, sagte der Doktor, »wir kennen uns seit siebzehn Jahren. Ich bin dein Doktor.«
Die Frau öffnete den Mund. Ihr Blick enthielt eine gewisse Anstrengung, aber es trat kein Zeichen des Erkennens auf ihr Gesicht.
Ich wußte nie, daß Wahnsinn so sichtbar sein kann. Sie tat nichts Ungewöhnliches, sie lachte nicht schrill und sie sprach nicht wirr, sie tat und sagte gar nichts, aber es war ganz deutlich, daß sie nicht bei sich war.
»Komm, Martha«, sagte der Doktor leise und führte sie auf den Wagen zu. Aber plötzlich blieb sie stehen.
»Wo ist die Kirche?« fragte sie und sah zum Horizont hinüber.
»Was willst du in der Kirche?«
»Ich habe da etwas zu sagen«, murmelte die Frau.
»Dem Pastor?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte mit meinem Vater sprechen.«
»Aber dein Vater ist seit dreißig Jahren tot.«
Sie nickte schwer.
»Komm, steig ein«, sagte der Doktor. Ich half der alten Frau, auf den hinteren Sitz zu kommen.
»Ist sie —?«
»Im Moment wohl«, sagte der Doktor schnell, »es kommt und geht bei ihr. Es ist altersbedingt. Sie vergißt manchmal alles und gerät in Träume.«
Der Doktor wendete den Wagen und fuhr den Weg zurück. Die alte Frau hinter uns rührte sich nicht.
»Du erinnerst dich an deinen Vater?« fragte der Doktor. Ich sah ihn überrascht an, denn seine Stimme verriet Anspannung.
Die Frau saß hinter uns, klein wie ein Kind, mit allen Zeichen des Verbrauchtseins . Sie sah aus, wie das Ende aussieht.
»Warum willst du deinen Vater sprechen?« fragte der Doktor.
»Er soll mir verzeihen«, sagte die Frau.
Schweigend fuhren wir die letzten Kilometer.
Der Doktor hielt vor einem Bauernhof, der abseits lag.
Kaum hielt der Wagen, als ein alter Mann aus dem Hause kam. Er stand und sah herüber.
Offenbar entdeckte er durch die Scheiben des Wagens die alte Frau. Sofort setzte er sich eilig in Bewegung.
Der Doktor stieg aus, ich half der alten Frau beim Herausklettern.
»Sie war wieder unterwegs«, sagte der Doktor.
Der Mann war etwas jünger, untersetzt, kräftig.
»Martha«, sagte er, »warum läufst du weg?«
Er wandte sich an den Doktor: »Wußte sie wieder nicht, wo sie war?«
»Nein«, antwortete der Doktor und sah den Mann aufmerksam und fast grübelnd an.
»Es wird schlimmer«, murmelte der Mann, »sagte sie etwas?«
»Sie wollte in die Kirche.«
Der Mann sah uns unruhig an. »Ich weiß nicht, was sie in der Kirche will.«
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