Unser Doktor
ist los? Du spielst wie ein Kind.< Es war übrigens der Abend, an dem mein Mann Fahrenbusch überredete, nach Hamburg zu gehen, um sich behandeln zu lassen.
>Ist es doch so schlimm?< fragte er. >Unsinn<, sagte mein Mann, >aber es gibt heute sehr viele neue Möglichkeiten, die man einfach ausnutzen muß. Der Aufwand sieht gewaltig aus, gerade bei so harmlosen Ursachen, aber das bringt die Technik mit sich.<«
»Was wurde mit ihm gemacht?«
»Mein Mann setzte es durch, daß sie ihn in Hamburg mit der Kobaltbombe behandelten. Er telefonierte andauernd mit den Ärzten in Hamburg. Sie legten ihre Erklärungen fest, Fahrenbusch gegenüber, der unter keinen Umständen wissen sollte, wie es um ihn stand.«
»Nützte es etwas?«
»Die Behandlung? Ja, sein Zustand besserte sich zusehends, sein Aussehen, sein Allgemeinzustand, sein subjektives Empfinden. Er fühlte sich wohl.«
Ihre Stimme wurde leiser.
»Aber dennoch verloren wir unsere Freunde. Vera Fahrenbusch glaubte uns nicht mehr. Sie hielt die Diagnose für falsch. Die Besserung im Befinden ihres Mannes war so augenfällig, daß sie meinen Mann für einen schlechten Arzt hielt. Sie besuchte uns nicht mehr. Fahrenbusch selber kam einmal und fragte: >Was habt ihr mit Vera gemacht? Sie ist einfach nicht gut zu sprechen auf euch.< Ihm selber war es nicht recht, aber er beugte sich dem Willen seiner Frau und kam schließlich auch nicht mehr.«
Langsam fuhr sie fort: »Mein Mann hatte es Vera gesagt. Vera erzählte es ihren Verwandten. Schließlich wußte das ganze Dorf, daß mein Mann bei Fahrenbusch Krebs diagnostiziert hatte. Fahrenbusch erfuhr es nie, aber alle Leute sonst wußten es. Und alle sagten: >Da hat der Doktor aber mal kräftig danebengehauen.<«
Bitter sagte sie: »Man redete sogar in den Gasthäusern darüber. Nicht nur das, der Bürgermeister sprach ihn darauf an: >Doktor, Sie erschrecken da Menschen. Das ist wohl nicht richtig.<«
»Und Ihr Mann?«
»Der wehrte sich nicht. Er schwieg. Wir verloren sogar Patienten. Einige kamen einfach nicht mehr.“
»Und heute abend?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise.
Obwohl es spät war, wollte niemand von uns schlafen gehen. Wir warteten beide auf den Doktor.
Es war weit nach Mitternacht, als wir seinen Wagen hörten. Der Doktor kam herein. Sein Gesicht war grau. Schweigend sah er uns an.
Seine Frau, offenbar mit jeder Regung seines Gesichtes vertraut, wußte es sofort. »Er ist tot.«
Der Doktor nickte.
Er setzte sich müde, atmete tief auf.
Langsam sagte er: »Ich sah es sofort, als ich hinkam. Höchstens noch eine halbe Stunde. Ich gab ihm Morphium. Dann habe ich es ihm gesagt.«
Ich erschrak: »Was haben Sie ihm gesagt?«
»Daß er sterben wird, daß er Krebs hat und daß ihm niemand mehr helfen kann.«
In die Pause hinein sagte er weiter: »Ich halte es für richtig, es dem Patienten zu sagen — in der letzten halben Stunde.«
Die Sätze kamen nur tropfenweise.
»Er reagierte nicht sehr heftig, aber es erschütterte ihn natürlich sehr. Ich sagte: >Ich bin dein Freund, und es ist jetzt meine Pflicht, es dir zu sagen.« Er begriff es wohl auch. Er nahm meine Hand. Dann ließ er seine Frau hereinholen, seine Kinder. Er war noch in der Lage, Anweisungen zu geben. Sein Verstand funktionierte bis zuletzt. Er verabschiedete sich von allen und gab besonders seinen Kindern gewisse Ratschläge, die sie wohl auch brauchen. Dann starb er.«
Der Doktor nahm eine Zigarette. Er sah erschöpft aus, und ich begriff plötzlich, daß auch ein Arzt immer ein bißchen mitstirbt.
Ich erinnerte mich zynischer Bücher, die ich über Medizin und Mediziner gelesen hatte. Sie entsprachen einer heute modernen Art zu desillusionieren, aber sie sind wohl falsch. Mit Zynismus kommt kein Arzt weiter. Es ist höchstens ein Schutz gegen eine ganz natürliche Anteilnahme, die auf die Dauer bedrückend sein muß.
Der Blick des Doktors war abwesend. So, als sei er ein Stück des dunklen Weges mitgegangen.
Er stand plötzlich auf und ging schlafen.
Seine Frau murmelte: »So ist er immer, wenn ihm einer seiner Patienten stirbt.«
Wir standen auf. Sie löschte eine Lampe nach der anderen, bis das Zimmer im Dunkeln lag.
Es war, als sei der Tod ins Zimmer getreten, schweigend, aber er war da. Er war, wo er hingehört, dicht neben uns. Man sieht ihn nicht gerne, man sieht durch ihn hindurch, als sei er nicht da. Aber manchmal zeigt er, daß er da ist. Kurz vor dem Einschlafen, in jenem kurzen Zeitraum, in dem die
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