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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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Gedanken im Bewußtseinszwielicht besondere Schärfe annehmen, wußte ich plötzlich, daß ich am nächsten Tage Ursula besuchen würde.
    Der nächste Tag war sehr schön.
    Wieder war der Himmel blau, der Frühling wurde warm und kräftig.
    Ich zögerte, ob ich Ursula besuchen sollte.
    Ich fragte mich: Warum willst du das tun? Ich spürte die Abwehr in mir als einen tiefen Instinkt. Jedes Tier, das seinen Tod spürt, verkriecht sich, und alle meiden es. Aus einem gesunden Gefühl heraus? Was ist daran gesund? Es ist primitiv, und es ist barbarisch.
    Fast ohne es zu wollen, schlug ich den Weg nach Voerdecke ein, bis die Türme der Zementfabrik zu sehen waren.
    Ich hielt meinen Wagen vor dem Dorf.
    Ich stieg aus und rauchte eine Zigarette.
    Ich spürte, daß ich begann, dieses Land zu lieben. Die Weiden begannen grün zu werden. Eis war das erste, das wunderbarste Grün, Lebenswille in der schönsten Farbe, die es gibt.
    Die Sonne machte warm, und ich genoß die Wärme.
    Plötzlich sah ich den weißen Wagen vom Dorf herkommen. Er war offen, und ich erkannte Ursula.
    Sie bremste vor meinem Wagen und stieg aus.
    Sie lachte.
    »Sind Sie zufällig hier?« fragte sie und gab mir die Hand.
    Sie trug einen Schottenrock und eine weiße Bluse. Sie war schlank wie ein Weidenast, ihr Gesicht so weiß wie immer, mit einem leichten Schimmer von belebtem Elfenbein. Aber was mich berührte, war ihr Lächeln. Ein ganz unbefangenes Lächeln, das fast fröhlich war.
    »Ich dachte, ich könnte Sie wirklich mal besuchen«, murmelte ich.
    »Das ist schön«, erwiderte sie, und ihre Stimme war ohne Hintergrund, hell, klangvoll. Ich kann nicht sagen, warum mich ihre Stimme erleichterte.
    »Soll ich Ihnen unser Haus zeigen?« fragte sie.
    »Nein«, sagte ich, »im Moment bin ich einfach nicht auf Zimmer scharf. Weil es draußen so schön ist.«
    »Sie haben recht«, stimmte sie zu, und wir gingen in die Wiesen hinein. Sie schritt leicht, als habe sie kein Gewicht. Sie trug flache Schuhe, als habe sie gewußt, daß sie über Wiesen gehen würde. Sie sah wieder aus, als sei sie einem Modejournal entstiegen. Es war keine Dunkelheit an ihr, sie benahm sich völlig normal.
    »Kennen Sie die Kapelle drüben am Waldrand?«
    Ich kannte sie nicht.
    »Natürlich nicht«, lächelte sie, »sie ist dreihundert Jahre alt. Sie liegt sehr hübsch.«
    Wir besichtigten die Kapelle, die die Größe eines Zimmers hatte. Sie war offen, und wir gingen hinein.
    Steinfußboden, kahle Wände, eine Andeutung von einem Altar.
    »Sie ist sehr hübsch«, sagte ich.
    »Nein«, lächelte sie, »hübsch ist sie nicht. Aber sie hat etwas ganz Bestimmtes. Man ist hier drinnen allein. Allein mit — «, sie zögerte, »mit dem, was sie enthält.«
    »Gott«, sagte ich.
    Sie sah mich an, ganz ernsthaft plötzlich. »Natürlich«, kam es leicht und selbstverständlich von ihren Lippen.
    »Ich habe nichts für Massengebete übrig«, sagte sie, »selbst im Gebet sind wir Menschen selbstsüchtig. Als ob Gebete mehr bewirken, wenn sie in Einsamkeit gesprochen — oder gedacht werden.«
    Sie lächelte.
    »Gott soll sich nicht ablenken lassen.«
    Dies alles sagte sie im leichtesten Tone, ohne Dunkelheit, und sie ging auch schnell wieder hinaus.
    Ich sah sie im hellen Türausschnitt stehen, der Himmel hinter ihr in geradezu blendendem Licht.
    Und sie wird sterben, dachte ich. Der Gedanke kam ganz plötzlich in dieser Schärfe, und ich konnte kaum atmen.
    Wir gingen am Waldrand entlang.
    »Hier bin ich oft geritten«, erzählte Ursula und lächelte. »Ich wollte Turnierreiterin werden. Reiten Sie?« fragte sie mich.
    »Nein«, antwortete ich, »ich habe kein Verhältnis zu Pferden. Sie sind mir zu groß.«
    Sie lachte herzlich. Jetzt erkannte ich, daß ihr Lachen doch nicht normal war. Ich hatte mich täuschen lassen. Ihr Lachen war zu intensiv, so als habe ein Lebensrausch sie vollkommen erfaßt.
    Ich wußte es noch deutlicher: Sie war dankbar. Dankbar, weil ich sie besucht hatte.
    Sie schritt kräftig aus, alles an ihr federte.
    Dankbarkeit und Demut. Demut, indem sie alles unterließ, mich zu erschrecken. Das verlangte sehr viel Kraft von ihr.
    Wir kamen plötzlich an einen Bach. Er war nicht sehr tief, aber es gab keine Brücke.
    Leise sagte sie zu mir: »Können Sie mich hinübertragen?«
    Ich zog meine Schuhe aus, krempelte die Hosenbeine hoch. Sie nahm meine Schuhe in die Hand, und ich hob sie hoch. Sie legte die Arme um meinen Hals, und ich trug sie auf beiden Armen hinüber.

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