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Unser Doktor

Unser Doktor

Titel: Unser Doktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Reinecker
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sagen, sie besitzt die Kraft nicht, sich gegen Sie zu wehren.«
    Sass war etwa fünfzig, groß, hager, ein Mann mit weißem, fleischigem Gesicht. Er stand jetzt auf. Er schwieg drei Sekunden, mehr brauchte er nicht, um sich völlig zu beherrschen.
    Er sah den Doktor fast neugierig an.
    »Gegen mich wehren —?«
    »Ja, Herr Sass , gegen Sie.«
    »Wollen Sie was trinken?« fragte Sass und holte eine Flasche.
    »Danke, nein«, erwiderte der Doktor steif und fuhr langsam fort: »Ich komme viel herum.« Er lächelte schwach. »Ich bin der Mann in zwanzig Kilometer Umkreis, der die meisten Geheimnisse kennt. Ich sehe sie, oder man trägt sie mir zu. Eigene Geheimnisse und fremde.«
    Er blickte Sass ruhig an. »Auch Ihre.«
    Sass verhielt einen Moment in jeder Bewegung. »Meine Geheimnisse?« Er lachte: »Vielleicht wissen Sie mehr als ich.«
    »Nur mehr als Sie denken«, sagte der Doktor, »beispielsweise, daß Sie eine Geliebte haben, ein junges Mädchen, das in Ihrer Bank arbeitet.«
    Sass blieb ganz ruhig.
    »Geht das nicht zu weit, Doktor?«
    »Ich sagte schon — «, der Doktor hob die Schultern, »daß Sie alles, was ich sage, vielleicht als eine unerlaubte Einmischung ansehen.«
    Seine Stimme wurde ganz klar: »Dennoch muß ich jetzt mit Ihnen reden. Ihre Ehe ist nicht gut. Sie haben keine Beziehung mehr zu Ihrer Frau. Sie ist Ihnen gleichgültig.«
    Sass starrte den Doktor an.
    »Ich sollte Sie hinauswerfen, Doktor.«
    »Das können Sie natürlich tun«, sagte der Doktor glasklar und mit unüberhörbarer Schärfe, »es ist Ihr Haus. Sie können natürlich sagen: Gehen Sie.«
    Er sah Sass fast erwartungsvoll an.
    Der stand ganz ruhig, warf einen prüfenden Blick auf den Doktor, lächelte plötzlich leicht.
    »Ich bin vielleicht zu empfindlich«, sagte er langsam, »verzeihen Sie. Sie haben natürlich recht, meine Ehe ist nicht sehr gut. Aber schließlich kommt so was vor — Entfremdung, eine gewisse Gleichgültigkeit. Es passiert einfach mit den Jahren. Ist das nicht bei jeder Ehe so?«
    »Nein. Nicht bei jeder. Die Gefühle ändern sich, das schon, das sicher. Liebe hat viele Formen. Die Leidenschaft verliert sich zugunsten eines anderen Gefühls, das viel dauerhafter, unzerstörbarer ist.«
    »So«, sagte Sass .
    »Diese Wandlungen hat es bei Ihnen nicht gegeben. Sie kennen die Liebe nur in ihrer Leidenschaft. Daher nahmen Sie sich eine junge Geliebte, zweiundzwanzig Jahre alt, blond, etwas dumm, etwas egoistisch, aber mit einem Körper, der Ihre Erwartungen erfüllt.«
    Wieder sagte er: »Finden Sie die Art, in der Sie reden, nicht unverschämt?«
    »Nein«, antwortete der Doktor ernst, »sie ist offen und ehrlich. Man kommt am weitesten damit.«
    Sass nahm einen Schluck, tupfte mit einem weißen Tuch die Lippen ab, ließ keinen Blick vom Doktor.
    »Ich nehme an, Sie haben noch nicht alles gesagt.«
    »Nein«, fuhr der Doktor langsam fort. »Mein Beruf bringt es mit sich, daß ich die Menschen kennenlerne. Manchmal genügt ein Blick, um zu wissen, was mit ihnen los ist.«
    »Auch bei mir nur ein Blick?« fragte Sass ausdruckslos.
    »Ein Blick oder mehrere«, erwiderte der Doktor, »aber ich weiß, was mit Ihnen los ist.«
    Langsam sagte er: »Sie gehören zu denen, die ihre Leidenschaft im Hause haben wollen. Sie gehören zu den Unersättlichen, die sich mit Wochenendreisen nicht begnügen können,
    nicht mit gestohlenen Stunden irgendwo in einem Hotel. Sie wollen alles, jeden Tag, jede Stunde.«
    Sass stand regungslos.
    »Nur weiter, Doktor«, sagte er, »mit Ihren Phantasien.«
    »Ich werde Ihnen alles sagen«, versetzte der Doktor kühl. »Sie wollen Ihre Frau loswerden, um das junge Ding zu heiraten.«
    Sass lachte auf.
    »Lieber Doktor«, sagte er und lächelte unverschämt, »Sie haben da ein paar Ideen, die absurd sind. Sie beleidigen mich zwar, aber ich habe mich entschlossen, Sie nicht ernst zu nehmen.«
    »Vielleicht nehmen Sie etwas anderes ernster«, sagte der Doktor, »Sie haben eine Hausangestellte, die kleine und große Geheimnisse gern weitergibt. Deswegen weiß ich, wie die Abende hier im Hause verlaufen. Schreckliche Abende für Ihre Frau. Und aus einem einzigen Grunde schrecklich, weil Sie Ihre Frau quälen, manchmal mit Schweigen und Nichtachtung, manchmal mit Worten, mit Gesprächen. Sie sitzen hier in einem Sessel, den Schnaps neben sich, und kennen nur ein Ziel: Wie schaffe ich es, sie bis aufs Blut zu quälen, stundenlang zu quälen, sie in so schreckliche Aufregung zu versetzen, daß

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