Unser Doktor
Schrank. Sie war von erschreckender Häßlichkeit, eine nackte Dame, die auf den Zehenspitzen stand und eine Kugel auf dem Zeigefinger balancierte.
Die Frau des Doktors lächelte. »Das Geschenk eines Patienten.«
»Und hat hier einen Ehrenplatz?« fragte ich.
Sie hob die Schultern.
»Diese Figur gehörte einem älteren Mann, der früher einmal als Matrose zur See gefahren sein muß. Sie stand in seinem Krankenzimmer, und mein Mann pflegte bei Besuchen sich auch vor dieser Bronzefigur zu verbeugen. Dem Manne — er lag mit Leberkrebs — machte das großes Vergnügen, und meinem Mann lag daran, ihn aufzuheitern, so daß er diese Gewohnheit beibehielt: Er begrüßte den Patienten und verbeugte sich jedesmal auch vor der kleinen Nackten. Nach seinem Tode brachte seine Frau die Figur. Ihr Mann hatte ihr aufgetragen: Wenn ich einmal sterbe, dann kriegt der Doktor diese Figur.«
Ich lachte.
»Deswegen steht sie hier«, sagte sie. »Mein Mann stellte sie auf den Schrank, aber mit der Zeit haben wir uns daran gewöhnt. Wir haben sie Amanda genannt, und Amanda bleibt nun hier.«
An einem der nächsten Abende erzählte mir der Doktor eine Geschichte, die sich vor etwa drei Wochen zugetragen hatte. Da klopfte es um zehn Uhr abends an die Haustür.
Draußen stand ein kleiner Junge, barfuß, in einem verwaschenen Hemd, in geflickter Hose.
»Warum klingelst du nicht?« fragte der Doktor.
Aber der Junge wußte gar nicht, was das war. Eine Klingel hatte er nie erlebt, außer der Ladenklingel natürlich beim Krämer im Dorf.
Der Junge sagte, der Doktor solle schnell kommen, aber er rückte nicht mit der Sprache heraus, worum es ging.
»Wer ist krank?« fragte der Doktor.
Er sagte es nicht, er sah den Doktor nur an.
Der Doktor lud also den Jungen in den Wagen und fuhr mit ihm los.
»Bist du zu Fuß gekommen?« fragte der Doktor. Der Junge nickte. Er war quer über Feld und Wiesen und in vollkommener Dunkelheit nach Bredersdorf gelaufen.
Der Doktor kannte ihn. Der Junge gehörte zu der Familie der Wild- und Holzdiebe, die ich selber einmal kennengelernt hatte.
Der Doktor kam vor dem einsamen Hause an.
»Mach Licht aus«, flüsterte der Junge.
Der Doktor sah im Scheinwerferlicht, daß die ganze Familie ihn vor dem Hause erwartete, die Kinder und die Frau. Der Mann war nicht zu sehen.
Der Doktor löschte das Licht, stellte den Motor ab.
Er stieg aus und fühlte sich sofort von mehreren Händen ergriffen. Sie hielten ihn an der Hand, ergriffen seine Jacke, seine Hose. Ohne ihre Hilfe hätte er in der stockdunklen Nacht die Haustür nicht gefunden.
Innen war es fast genauso finster. Ein schwaches Petroleumlämpchen gab nur wenig Licht. Eine Tür knarrte, der Doktor wurde in ein Zimmer geführt.
Dort lag der Mann des Hauses auf einem Bett. Er lag auf dem Bauch, drehte das schmerzverzerrte Gesicht herum, so gut er konnte.
»Doktor«, ächzte er, »gut, daß Sie kommen.«
Der Doktor sah sofort, was passiert war, aber nun begann er, die Situation zu genießen.
»Was ist denn passiert?« fragte er scheinheilig.
»Sehen Sie das nicht?« jammerte der Mann.
»Ich sehe«, sagte der Doktor, »daß du dir deinen Hintern hältst und daß deine Hose auf eine merkwürdige Weise durchlöchert ist.«
»Um die Hose wäre es nicht schade«, murmelte der Mann, »auf einen Flicken mehr oder weniger kommt es da nicht an.«
»Der Schaden sitzt tiefer, wie?«
»Ja«, ächzte der Mann.
»Könnte man sagen, er sitzt in der Haut?«
»So ist es«, bestätigte der Mann.
Die Frau stand die ganze Zeit mit der Kinderschar daneben. Sie sagte jetzt rauh: »Rede doch nicht drum herum.« Sie wandte sich an den Doktor: »Er hat eine Ladung Schrot im Hintern.«
Ein Kind kicherte leise und wurde sofort still, als die Mutter sich umwandte, die Hand schon erhoben.
»Da geht so ein Mensch los«, sagte die Frau, »um den Hunger seiner Kinder zu stillen — «
»Er wollte sicher Pilze sammeln«, grinste der Doktor.
»So ist es«, sagte der Mann und zog die Hose herunter.
»Oder wollte er einen Hasen fangen?«
»Die alte Frage, Doktor«, sagte der Mann, »man steht im Walde und denkt: Gemüse oder Fleisch? Es ist eine große Versuchung, wenn man so viele Kinder hat, denen der Hunger aus den Augen sieht.«
»Diese Frage hast du offenbar falsch beantwortet«, grinste der Doktor, »und dieses Versehen hat aus deinem Hinterteil ein Kaffeesieb gemacht.«
»Muß der Mensch gleich schießen?« sagte die Frau wütend. »Auch im Walde sollten doch
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