Unser Doktor
ich.
»Nein«, murmelte er.
»Ich wollte Ihnen schon gratulieren«, lachte ich.
»Wieso?«
»Ich dachte, es wäre Ihr Kind, das da offensichtlich unterwegs ist.«
»Ist es ja«, sagte er.
Ich schwieg verdutzt. Er fuhr fort: »Es ist nämlich überfällig, und meine Frau sagte: Nun fahr mal mit ihr zum Doktor.«
»Ihre Frau?« fragte ich überrascht.
»Ja«, murmelte er etwas verdrossen, »bei dem Wetter. Ich konnte sie mit keinem anderen schicken, denn keiner kann den Trecker fahren«, sagte er mit gewissem Stolz und sah liebevoll auf seine Maschine.
In der Praxis öffnete sich ein Fenster. Der Doktor rief mir zu: »Können Sie mal wieder helfen?«
»Wie denn?« fragte ich zurück, »brauchen Sie eine Hebamme?«
»Nein«, lachte er, »aber die Frau muß sofort zurück. Aber nicht mit dem Traktor da.«
Er schloß das Fenster.
Ich hatte begriffen und holte meinen Wagen.
Der Doktor kam schon mit der Frau aus dem Haus. Er führte sie behutsam. Der Bauer sah etwas verdutzt zu und rührte sich nicht. »Steh nicht so herum«, rief der Doktor ihm zu, »hast du nicht gemerkt, daß sie Wehen hat?«
»Nein«, schüttelte der Bauer den Kopf.
Ich half mit, die Frau — es war eine noch jüngere kräftige Person — in den Wagen zu heben. Sie lag auf den hinteren weichen Sitzen und sah uns mit dunklen Augen stumm an.
»Sie hat einfach nicht gemerkt, daß sie schon in den Wehen ist«, sagte der Doktor zu mir. »Wenn ich sie mit dem Traktor nach Hause schicke, kriegt sie das Kind unterwegs.« Er beschrieb mir den Weg, und ich fuhr los.
Ich sah den jungen Bauern immer noch bewegungslos neben seinem Trecker stehen.
Die Frau hinter mir rührte sich nicht. Sie atmete nur schwer, und ich bemerkte, daß ihr Gesicht von Schweiß bedeckt war. Aber sic schrie nicht, sie lag ganz ruhig.
Ich fuhr so weich ich konnte. Die Fahrt mit dem Trecker muß eine Tortur für sie gewesen sein.
In Groß-Teppen angekommen, beschrieb die Frau hinter mir mit leiser Stimme, wie ich fahren müsse, und ich hielt schließlich vor einem Bauernhof, der ziemlich wohlhabend aussah. Aus dem Hause kam eine Frau, die verwundert auf meinen Wagen zuging. Dann bemerkte sie die Frau auf den Rücksitzen und sagte verwundert: »Was ist los, Lina?«
Ich erklärte ihr, daß der Doktor mich geschickt habe, daß die Geburt bevorstehe und daß die Hebamme unterwegs sei.
»Und wo ist mein Mann?« fragte die Bäuerin.
»Ich nehme an, daß er mit dem Traktor zurückkommt.«
Sie lachte. »Na, der wird schön fluchen. Er wollte aufs Feld. Das Wetter ist so gut.«
Sie rief eine Magd herbei, und dann transportierten sie die junge Frau ins Haus. Ich half, so gut ich konnte.
Ich stand schließlich in der Küche, und die Bäuerin schenkte mir ohne Aufforderung einen Schnaps ein.
»Ich habe gleich gesagt, sie ist in den Wehen. Sie schreit nur nicht.«
»Offenbar«, sagte ich höflich und trank den Schnaps, der mir kratzend durch die Kehle fuhr.
Na, dachte ich, Tragödien scheint es hier nicht zu geben. Alles schien selbstverständlich zu sein.
Die Bäuerin war selber eine noch junge Frau, aber sie schien es gewohnt zu sein, zu kommandieren. In der Küche war es warm, es roch nach Brot, nach geselchtem Fleisch. Die Dielenbretter knarrten, wenn die Bäuerin sich bewegte.
Ich hatte plötzlich den Eindruck von großer Kraft, als säße diese Kraft in den Balken, in den Wänden, im Dach.
Ich fühlte mich fast eingehüllt von kräftiger Wärme, von Gerüchen, die uralt waren.
Ich fragte mich verwundert: Liegt es daran, daß es hier einfach keine Tragödien geben kann? Fast schien es so.
Die Hebamme kam wenig später auf dem Fahrrad, aber die Bäuerin hatte alles schon vorbereitet, Wasser kochte auf dem Herd, Tücher waren bereitgelegt.
Frau Wingst , die Hebamme, begrüßte die junge Bäuerin mit herzlicher Vertrautheit, und ich begriff plötzlich, daß Frauen ein Geheimnis miteinander verbindet und daß unsere neugierigen Fragen manchmal kein Echo finden können, weil sie einfach nicht begriffen werden.
Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr los. Ich begegnete dem jungen Bauern auf seinem Traktor. Er sah etwas verdrossen aus, als bedauere er nichts mehr, als gerade heute nicht rechtzeitig auf dem Felde gewesen zu sein.
Ich fuhr ein wenig, um dann irgendwo zu halten.
Ich stieg aus, um die Sonne zu genießen und den Blick über die Felder, auf denen Menschen beschäftigt waren, kleine Punkte auf weiten gemusterten Flächen.
Tod und Geburt, dachte ich, die
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