Unser Doktor
ihr Herz schlappmacht und — irgendwann einmal — endgültig aufhört zu schlagen.«
Mit schneidender Stimme sagte der Doktor: »Was Sie tun, was Sie mit vollem Bewußtsein tun — ist langsamer Mord.«
9
Der Mann sah aus, als habe ihn ein Peitschenschlag getroffen. Sein fahlweißes Gesicht wurde plötzlich rot. Er schien eine fast übermenschliche Anstrengung zu machen, um sich nicht auf den Doktor zu stürzen. Er blieb sekundenlang stehen, schloß die Augen.
»Ich gehe jetzt«, sagte der Doktor leise, »ich wollte Ihnen nur sagen, was ich weiß und wovon ich überzeugt bin. Vielleicht gehören Sie zu den Leuten, die den vollen Mut zur Grausamkeit nur dann haben, wenn Sie glauben, unbemerkt zu sein. Nun wissen Sie, daß Sie einen Zeugen haben. Ob sein Zeugnis für die Gerichte ausreicht oder nicht.«
Er ging ohne ein weiteres Wort hinaus und sah sich nicht mehr um.
Später erzählte mir der Doktor diese Geschichte.
Er sagte: »Diese Zeit, die Sie hier auf dem Lande verleben, war sicher sehr lehrreich für Sie. Deswegen sollen Sie auch diese Geschichte hören, die Geschichte eines langsamen Mordes. Denn dieses Wort ist nicht zu schwach für das, was passierte. Jeder blickt jedem nur auf die Oberfläche. Nachbarn, Freunde, Mitmenschen. Man hat sich daran gewöhnt, sich mit dem äußeren Bild zu begnügen. Aber unter der Oberfläche bewegt es sich wie unter dem Wasserspiegel eines Meeres.« Der Doktor lächelte leicht, als wolle er die Wirkung seiner Worte mildern. »Da wimmelt es geradezu von sonderbaren Tieren, manchmal auch von Ungeheuern.«
»Ja«, sagte ich, denn seine Geschichte bewegte mich sehr. Sie machte mich etwas traurig und hilflos.
»Es gibt ganz geheime Kämpfe zwischen Menschen«, fuhr der Doktor fort, »jeder von uns ist in solche Kämpfe verstrickt.« Er streckte mir plötzlich seine Hand hin.
»Manchmal«, lächelt er mich an, »kämpfen Menschen auch mit sich selber. Eine Abart von Kämpfen, die nicht weniger grausam und voller Niederlagen ist.«
Ich fragte: »Was werden Sie nun mit der Frau machen, von der Sie glauben, daß ihr Mann sie umbringt?«
»Da kann man nichts machen«, erwiderte der Doktor leise, »für die Gerichte reicht das nicht. Nur ein kleiner Teil menschlicher Grausamkeit reicht aus, um die Gerichte zu beschäftigen. Man kann jemanden niederschlagen. Das wird jedes Gericht sühnen. Aber es gibt andere und weitaus wirksamere Möglichkeiten, Menschen zu verletzen.« Langsam setzte er hinzu: »Von denen viel Gebrauch gemacht wird.«
Wir gingen schlafen.
Die Nächte waren schon warm. Blütenduft drang in mein offenes Schlafzimmer. Es war nicht reine, leere Urlaubsluft. Es war die Luft, die mir plötzlich gesättigt schien von menschlichen Schicksalen, von denen jedes Land voll ist. Kein Schmerz war hörbar, jedes Gefühl aufgesogen von der Stille der Nacht und doch vorhanden, mit der Fähigkeit, Räume zu erfüllen.
Ich schlief dennoch gut.
Ich traf den Doktor am nächsten Morgen am Frühstückstisch. Er wunderte sich. »Wissen Sie«, sagte er, »daß Sie jeden Tag früher aufstehen? Sie bekommen einen anderen Rhythmus für Ihren Tag. Unseren Landrhythmus.«
Der Doktor sah fast vergnügt aus.
»Ich habe endlich mal durchgeschlafen«, sagte er, »niemand hat mich geholt.«
Aber das Wartezimmer war schon wieder voll.
Der Doktor blickte auf die Straße hinaus. Er sah die einzelnen Patienten kommen. Er kannte sie alle und wußte sofort, welche Fälle auf ihn warteten.
»Guck nicht zum Fenster hinaus«, sagte seine Frau und wandte sich an mich. »Er kann einfach nicht in Ruhe frühstücken.«
Der Doktor lachte, wollte etwas sagen, stand dann aber schnell auf und sah zum Fenster hinaus.
Auch ich sah hinaus.
Ein Trecker war vorgefahren, und von der schweren, stampfenden Maschine stieg eine Frau, von einem Mann gestützt. Sie war hochschwanger.
»Du liebe Zeit«, murmelte der Doktor, »diese Landmenschen tun, als besäßen sie die Natur von Pferden. Sehen Sie sich das an.« Er trank seinen Kaffee nun wirklich nicht mehr aus, sondern ging gleich hinüber in die Praxis.
»Was hat er?« fragte ich seine Frau.
»Sie steht kurz vor der Niederkunft, sehen Sie das nicht?«
Ich ging hinaus auf die Dorfstraße, um eine Zigarette zu rauchen. Der Mann, der mit dem Trecker vorgefahren war, kam aus der Praxis heraus, ein junger Bauer mit einem flachen Gesicht von gesunder roter Farbe.
Er stand etwas unschlüssig herum, und ich ging auf ihn zu.
»War das Ihre Frau?« fragte
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