Unser Doktor
spürte den Wunsch sehr stark, mit ihm zu sprechen.
Ich machte einen Umweg, ich fuhr über Kuhlerkamp und kam an dem kleinen Fluß vorbei.
Er hatte direkt Farbe bekommen. Die Regenwasser der vergangenen Woche hatten sich verlaufen. Das Wasser war blau, manchmal grün und ziemlich klar. Die Weiden ließen ihre Zweige schon schwer und grün hängen.
Ich sah zwei junge Menschen am Ufer. Einen jungen Mann und ein junges Mädchen. Das Mädchen trug Blue jeans, sah knabenhaft schlank aus, selbst wie ein Weidenzweig. Ich erkannte das taubstumme Mädchen. Der junge Mann neben ihr trug eine helle Hose und ein blaues Hemd. Ebenso jung, ebenso schlank. Sie warfen Steine ins Wasser, sie vergnügten sich auf jugendlich unbekümmerte Weise.
Sie sahen mich nicht. Sie hatten nur Augen füreinander.
Und plötzlich standen sie einander zugekehrt, und ihre Hände, halb erhoben, bewegten sich mit großer anmutiger Schnelligkeit. Ich begriff sofort: Sie sprachen miteinander.
Hatte der Doktor ihr nicht vor kurzem einen Brief überreicht, einen Brief mit dem Bilde eines jungen Mannes? Natürlich, das mußte er sein, der taubstumme Brieffreund, der dann so eilig selbst hergekommen war.
Sie hatten mich immer noch nicht bemerkt. Sie konnten meinen Wagen nicht hören. Sie waren allein miteinander in der großen Stille. Der kleine Fluß floß blau und grün, die flache Tiefe widerspiegelnd, an ihnen vorbei. Sie waren allein in einer Natur, die sich gleichsam schützend um sie erhoben hatte, mit bewachsenen Ufern, mit Weidendickichten.
Und ihre Hände sprachen miteinander mit anmutigen leichten Bewegungen. Hände, die einfach nichts Böses sagen konnten, weil es dafür wahrscheinlich keine Ausdrucksmöglichkeiten gab. Ich beneidete die beiden jungen Menschen plötzlich, ich begriff paradiesische Unschuld an ihnen und großen Reichtum.
Nun hatten die Hände zu Ende gesprochen. Sie faßten sich an und gingen am Ufer entlang, beide geschmeidig, federnd — mit bemerkbarer Lebenslust.
Ich sah ihnen nach, bis eine Biegung des Flusses sie meinen Blicken entzog.
Und der Himmel war tiefblau über mir, durchsetzt mit kleinen weißen Bilderbuchwolken, erfüllt vom Lärm der Vögel. Wie hatte der Doktor einmal gesagt: Die notwendigen Erkenntnisse werden am wenigsten mit Worten vermittelt, sondern durch die Bilder, die das Auge bietet — wenn es zu sehen versteht.
Meine Unruhe wurde weniger stark.
Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zurück.
Am Nachmittag war ich wieder mit dem Doktor unterwegs.
Wir fuhren eine Weile schweigend.
Ich wartete einfach immer, bis er anfing mit mir zu sprechen. Er hatte eine Menge zu denken, und ich wollte ihn nicht stören. Diesmal begann er sehr früh zu sprechen. »Was ist mit Ihnen?« fragte er.
»Wenn ich das wüßte«, sagte ich, »ich denke im Moment viel nach. Ich habe unser taubstummes Mädchen gesehen, unten am Fluß. Es war ein junger Mann dabei.«
»Ich weiß«, lachte er, »die Eltern haben mich angerufen, der junge Mann sei gekommen. Sie waren ganz begeistert. Er sei höflich, wohlerzogen und — das wichtigste — die beiden hätten sich auf Anhieb verstanden.«
»Es gibt also Geschichten, die auch gut ausgehen.«
»Natürlich«, sagte der Doktor, »wenn man die Vorstellungen der Literatur übernimmt. Dort hat alles irgendein Ende. Im Leben ist das anders, da gibt es nur ein Ende einer Geschichte: den Tod. Sonst gibt es nur Wendungen, die Geschichten nehmen, sonderbare, unvermutete. Manchmal hören Geschichten ganz plötzlich auf oder sie gehen endlos weiter, bis sie einfach versanden.«
»Sie haben da etwas gesagt, Doktor — im Leben gibt es nur ein Ende einer Geschichte: den Tod.«
»Ja.«
Er sah mich nicht an, blickte durch die Windschutzscheibe auf die graue Straße. »Sie denken an Ursula.«
Ich blickte ihn fast überrascht an. »Sie denken die ganze Zeit an sie«, setzte er ruhig hinzu, »es ist ein Fall, der Sie beschäftigt, vielleicht auch aus persönlichen Gründen.«
»Doktor«, sagte ich, »Sie werden mir langsam unheimlich.«
Er lachte. »Ein Arzt erwirbt sich Menschenkenntnis, das ist alles. Er muß ja ständig zwischen Lüge und Wahrheit unterscheiden, selbst wenn es unabsichtliche Lügen und unabsichtliche Wahrheiten sind.«
»Ich war heute dort.« Ich zögerte. »Ich habe mit ihrem Vater gesprochen. Er machte mir einen Vorschlag.«
Der Doktor sagte langsam: »Ich kann es mir denken.«
»Nein, Doktor, das können Sie nicht.«
»Er wird Sie gebeten haben, sich um
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