Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Bereichen sollte uns diese Entdeckung der gemeinsamen Schaltkreise unbedingt daran erinnern, dass die Möglichkeit, die Lernerfahrungen anderer Studenten unmittelbar zu erleben, ein wichtiger Teil des Lernprozesses sein kann.
KAPITEL ELF Empathische Ethik
Stellen Sie sich vor, Sie fahren von der Arbeit heim und sehen am Straßenrand einen Mann, der eine blutverschmierte Hand auf sein verletztes Bein presst. Er stöhnt vor Schmerzen und ruft verzweifelt um Hilfe. Außer Ihnen ist niemand da. Sie denken an die Sauerei, die das Blut in Ihrem Auto anrichtet, und an die zweihundert Euro, die die Reinigung der Sitze kostet. Werden Sie ihn am Straßenrand sitzen lassen, um Ihre Lederpolster zu retten? Natürlich nicht. Wie würden Sie einen Menschen, der sich in dieser Situation entschlösse, nicht zu helfen, auf einer Skala von 0 bis 10 einstufen, wobei 0 ein moralisches Ungeheuer, 5 Otto Normalverbraucher und 10 Mutter Teresa wäre?
Oder malen Sie sich aus, Sie kämen nach Hause und fänden den Brief einer angesehenen Hilfsorganisation vor, in dem Sie um 200 Euro gebeten werden, von denen Lebensmittel und Medikamente für hungernde Menschen in Afrika besorgt werden sollen. Gerade haben Sie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehört, dass diese Organisation absolut vertrauenswürdig ist. Spenden Sie die 200 Euro? Einige vielleicht, doch die meisten von uns täten es wahrscheinlich nicht. Und wie würden Sie einen Menschen auf derselben Zehn-Punkte-Skala einstufen, der sich entschiede, die zweihundert Euro zu spenden?
Überall auf der Welt würden die meisten Menschen den Protagonisten im ersten Beispiel schlechter bewerten als im zweiten Beispiel. Doch stellt sich bei genauerem Hinsehen die Frage: Warum eigentlich? Im ersten Fall meinen wir, es sei wichtiger, dem armen Kerl zu helfen, als die zweihundert Euro für die Reinigung unserer Ledersitze zu sparen. Das ist doch selbstverständlich. Und im zweiten Fall? Geht es nicht auch dort darum, zweihundert Euro gegen die Rettung eines Lebens abzuwägen? Der einzige echte Unterschied liegt darin, dass wir in der ersten Situation das hilfsbedürftige Opfer direkt vor uns haben, während der notleidende Mensch in der zweiten Situation weit weg ist.
Sie könnten einwenden: »Bei diesen Hilfsorganisationen weiß man doch nie, wo das Geld hingeht.« Nun haben Sie aber gerade in einem seriösen Radiosender gehört, dass diese spezielle Organisation äußerst vertrauenswürdig ist. »Na gut, trotzdem ist es nicht dasselbe. Wenn ich dem Burschen am Straßenrand nicht helfe, verliert er vielleicht sein Bein, während die Menschen in Afrika woanders Hilfe bekommen.« Wirklich? Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand dem armen Kerl an der Straße hilft, ist genauso groß – oder besser, genauso gering – wie die Chance, dass andere Leute genügend Geld für die Menschen in Afrika spenden, um ihren Beitrag nicht zur Entscheidung über Leben und Tod eines von ihnen werden zu lassen.
Wenn man diesen Standpunkt so beharrlich vertritt, kommt irgendwann der Punkt, an dem die meisten Leute nicht mehr argumentieren, sondern einfach so etwas sagen wie: »Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich dabei ein anderes Gefühl .« Oder Sie stimmen mir verstandesmäßig zu, doch das nächste Mal, wenn die Welthungerhilfe Ihnen einen Brief schickt, werfen Sie ihn wieder ohne sonderliche Gewissensbisse in den Papierkorb. Warum empfinden wir diese beiden Geschichten als so verschieden?
Lange Zeit war Ethik ein Spezialgebiet der Philosophen. Von den antiken griechischen Philosophen bis zu Kant waren sich die meisten Vertreter der Zunft einig, dass eine moralische Entscheidungen ein Akt bewusster Reflexion sein sollte und sein muss. Ethik ist das objektive Abwägen von Pro und Contra, Gut und Schlecht, Nutzen und Schaden auf der Waage der Justitia. Um ethisch zu sein, müssen Sie klar und nüchtern denken. Gefühle können diesen Prozess nur verschleiern.
Wenn wir uns diesen rationalistischen Standpunkt zu eigen machen und wenn die Menschen die einzige Art wären, die mit der Fähigkeit zu kühlem, logischem Denken begabt ist, dann hätten wir vielleicht ein Monopol auf Ethik. Tiere können keinen Sinn für Gut und Böse haben, weil sie nicht denken können. Wir bilden uns alle gern ein, einzigartig zu sein. Wenn man bedenkt, wie schwer es manchmal ist, das Richtige zu tun, hilft vielleicht der Glaube, dass wir uns damit in beispiellose moralische Höhen erheben. Doch heute bekommen wir von Psychologie
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