Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
und Neurowissenschaft eine ganz andere Botschaft zu hören. Möglicherweise sind gemeinsame Schaltkreise viel wirkungsvoller als der Intellekt, wenn es um moralische Fragen geht. Ob es richtig oder falsch ist, Menschen Leiden zu verursachen, entscheiden wir nicht in erster Linie mit dem Verstand, sondern mit dem Gefühl.
Ethik hat mehr mit Fühlen als mit Denken zu tun
Psychologen wie Joshua Greene von der Harvard University oder wie Jonathan Haidt von der University of Virginia sind zu dem Schluss gekommen, dass bewusstes Denken nicht der Ursprung moralischer Entscheidungen ist. Wenn wir dem armen Kerl am Straßenrand helfen, aber nicht bereit sind, Geld für die Menschen in Afrika zu spenden, dann liegt es nicht daran, dass wir darüber nachgedacht hätten und zu dem Schluss gekommen wären, dass es die bestmögliche Entscheidung sei. Wir fühlen uns vielmehr gezwungen, so zu handeln. Wenn uns dann jemand fragt, warum wir uns so und nicht anders entschieden haben, beginnen wir Gründe zu erfinden, die wir sprachlich vermitteln können.
Betrachten wir die Geschichte von Julie und Mark, einem Bruder und einer Schwester, die die Nacht allein auf einer Hütte verbringen und es für eine interessante und lustige Idee halten, miteinander zu schlafen. Obwohl Julie schon die Pille nimmt, benutzt Mark obendrein noch ein Kondom, um ganz sicherzugehen. Beide genießen es, beschließen aber, ihr Abenteuer nicht zu wiederholen. Sie behalten diese Nacht als ihr besonderes Geheimnis in Erinnerung, wodurch ihre Beziehung noch enger wird. Was halten Sie davon? Taten sie recht daran, miteinander zu schlafen?
Die meisten Menschen, die diese Geschichte hören, sagen sofort, die Geschwister hätten nicht miteinander schlafen dürfen. Doch fragt man sie nach den Gründen, tun sie sich mit der Antwort schwer. Es werden Argumente vorgebracht wie »na ja, wenn Geschwister Kinder haben, können sie behindert sein.« Doch wie groß ist das Risiko, wenn sich beide vorsehen? Manche machen geltend, die Geschwister könnten durch das Erlebnis traumatisiert worden sein, doch das wird in der Geschichte ausdrücklich ausgeschlossen. Früher oder später geben die Leute es auf und erklären: »Ich weiß nicht, ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, dass es falsch ist.« 125
Das moralische Empfinden für richtig und falsch scheint weder aus der Vernunft zu erwachsen noch von ihr abzuhängen, denn sonst müsste die Wiederlegung unserer Gründe unsere Einstellung zu dem Problem grundlegend verändern – was nicht der Fall ist. Die Auseinandersetzung mit den verstandesmäßigen Gründen anderer ändert nur sehr selten etwas an deren Entscheidungen. Irgendwie »fühlen« wir einfach, dass etwas richtig oder falsch ist. Natürlich sind unsere moralischen Entscheidungen nicht völlig unzugänglich für Vernunftgründe. Stellen Sie sich beispielsweise vor, Ihr Freund Dave erzählt Ihnen, er betrüge seine Freundin Beatrice. Nun ist Beatrice aber ebenfalls eine gute Freundin von Ihnen. Beatrice fragt Sie, ob Sie glau ben, dass Dave sie betrügt – ein unangenehmes Dilemma. Entwe der missbrauchen Sie Daves Vertrauen, oder Sie belügen Beat rice. Wenn Sie Zeit haben, greifen Sie wahrscheinlich zum Telefon und bitten einen dritten Freund um Rat. Der macht Sie vielleicht auf andere Aspekte der Geschichte aufmerksam, wodurch neue und andere Bauchgefühle geweckt werden könnten. Zuvor nährte sich ihr Bauchgefühl vielleicht von dem Gedanken, wie einem wohl zumute wäre, wenn man herausfände, dass der eigene Freund einen betrügt, doch nun fragt Ihr Freund am Telefon: »Wäre es dir nicht lieber, Bescheid zu wissen, wenn du Beatrice wärst?« Das könnte Ihre Gefühle verändern. Feststeht jedenfalls, dass Gefühle die primären Triebkräfte unseres Verhaltens sind. Nur wenn das Gespräch mit Freunden unsere Gefühle verändert, kann es zu einer grundlegenden Veränderung unserer Entscheidung führen. Aus dieser Erkenntnis lässt sich ein einfacher Rat ableiten: Wenn Sie die Einstellung von Menschen zu einer moralischen Frage – etwa ob Abtreibung gut oder schlecht ist – verändern wollen, hat es wenig Zweck, ihnen mit einem Katalog wissenschaftlicher Gründe zu kommen. Stattdessen müssen Sie ihnen das Problem aus einer Perspektive vor Augen führen, die mit anderen Gefühlen verknüpft ist, um ihre emotionale Haltung zu diesem Problem zu verändern.
Ethik ist also weniger moralisches Denken als moralisches Fühlen . Bauchgefühle sind die
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