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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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zuständigen Richter im Gerichtshof der Moral. Das lässt jedoch die Frage offen, warum wir manche moralische Gefühle haben. Wenn Tiere, einschließlich uns Menschen, das Ergebnis des Ausleseprinzips »Überleben des Tüchtigsten« sind, wie der britische Nationalökonom Herbert Spencer im 19. Jahrhundert behauptete, stellt sich doch die Frage, warum sie sich angesichts des blutenden Menschen am Straßenrand überhaupt unbehaglich fühlen .
    Gemeinsame Schaltkreise sind unsere moralische Stimme
    Wie in den vorhergehenden Kapiteln gesehen, wirken die gemeinsamen Schaltkreise für Handlungen, Emotionen und Empfindungen zusammen, um uns die Handlungen, Emotionen und Empfindungen anderer miterleben zu lassen. Wenn wir uns noch einmal dem Beispiel des Mannes am Straßenrand zuwenden, so stellen wir fest, dass wir ohne gemeinsame Schaltkreise vor einer einfachen Entscheidung stünden. Helfen wir ihm, so haben wir überall auf den Sitzen Blut. Wir kennen die Gefahren von Hepatitis C, HIV und so fort, und der Gedanke, dass unsere Kinder später auf diesen Sitzen spielen könnten, macht uns krank. Was bekämen wir dafür? Vielleicht ein Dankeschön, viel eher aber wohl lange Fragebögen im Krankenhaus oder vielleicht sogar die Gefahr, dass er im Auto stirbt und dass wir des Mordes verdächtigt werden. Wenn wir ihm andererseits nicht helfen, wird niemand je davon erfahren, und wir könnten rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein! Wenn das keine leichte Entscheidung ist!
    Unter Einbeziehung der gemeinsamen Schaltkreise wird die Gleichung etwas komplizierter. Wenn wir ihm helfen, ermöglichen uns der Anblick seines erleichterten Gesichts und der dankbare Ton seiner Stimme, das herzerhebende Gefühl des Vertrauens in die Menschlichkeit mitzuempfinden, das sich bei Menschen regt, denen Hilfe zuteil wird. Helfen wir ihm nicht, werden wir noch lange an dem Schmerz leiden, den wir beim Anblick seines blutenden Beins und der Erinnerung daran empfinden. Unter Mitwirkung der gemeinsamen Schaltkreise könnte unsere Entscheidung anders ausfallen.
    Gemeinsame Schaltkreise veranlassen Sie, die missliche Lage anderer Menschen zu berücksichtigen, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie wirklich ein entscheidender Faktor bei moralischen Entscheidungen sind. Allerdings lassen zahlreiche bildgebende Studien darauf schließen. Wie oben gezeigt, aktiviert der Anblick der Gefühle anderer – sei es Ekel, Glück oder Schmerz – dieselben Regionen der Insel, die feuern, während wir ähnliche Gefühle erleben, und genau diese Regionen werden auch aktiv, wenn wir von Notsituationen anderer Menschen lesen. 26 Wir wissen allerdings nicht, ob dieses Areal auch bei unseren eigenen moralischen Entscheidungen eine Rolle spielt.
    Dieser Frage gingen Joshua Green und seine Kollegen nach, indem sie die Gehirnaktivität von Versuchspersonen untersuchten, die schwierige moralische Entscheidungen trafen. 126 Sie gaben ihren Teilnehmern Szenarien folgender Art zu lesen: »Feindliche Soldaten haben Ihr Dorf eingenommen und sollen laut Befehl alle verbliebenen Zivilisten töten. Sie haben sich mit einigen anderen Dorfbewohnern in den Keller eines großen Hauses geflüchtet. Oben hören Sie die Stimmen von Soldaten, die das Haus nach Wertsachen durchsuchen. Ihr Baby beginnt laut zu schreien, daher halten Sie ihm den Mund zu, damit es Sie nicht verrät. Wenn Sie die Hand wegnehmen, wird sein Weinen die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen, die Sie, Ihr Kind und die anderen im Keller versteckten Menschen umbringen werden. Um sich selbst und die anderen zu retten, müssen Sie Ihr Kind ersticken. Halten Sie es für richtig, Ihr Kind zu ersticken, um sich und die anderen Dorfbewohner zu retten?« Die Forscher stellten fest, dass die Menschen lange brauchten, um zu entscheiden, was in dieser Situation zu tun sei. Dabei zeigte sich, dass genau dieselbe Region der Insel, die beim Mitempfinden der Gefühle anderer eine wichtige Rolle spielt, auch an dieser Entscheidungsfindung beteiligt war.
    Hier mögen Sie einwenden, dass gemeinsame Schaltkreise vielleicht dafür sorgen, dass wir den Schmerz anderer mitempfinden, dass aber die Entscheidung, anderen zu helfen oder nicht zu helfen, von ganz anderen Aspekten abhängen müsse. Hätten wir, wenn wir anderen helfen würden, nur den Zweck im Auge, den Schmerz abzustellen, den wir beim Anblick des Leidens anderer stellvertretend empfinden, wäre die geleistete Hilfe nichts anderes als eine versteckte Form des Egoismus.

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