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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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Wir würden anderen nicht infolge einer selbstlosen und moralischen Regung der Großzügigkeit helfen, sondern lediglich, um das stellvertretende Leid, das das Leiden anderer in uns wachruft, egoistisch zu beenden.
    Wie aus einer Studie des Sozialpsychologen Daniel Batson und seiner Kollegen an der University of Kansas hervorgeht, beruhen unsere moralischen Gefühle tatsächlich zum Teil auf der Abneigung, das Leiden anderer Menschen mitzuempfinden. Die Forscher ließen ihre Versuchsteilnehmer beobachten, wie ein anderer Proband – angeblich im Rahmen eines Lernexperiments – schmerzhafte Elektroschocks erhielt. Die Hälfte der Teilnehmer wusste, dass sie sich die ganze Sitzung von zwölf Elektroschocks ansehen mussten. Der anderen Hälfte hatte man gesagt, der Teilnehmer bekomme zwölf Schocks verabreicht, sie brauchten sich aber nur zwei anzusehen.
    Nach den ersten beiden Schocks wurden die Beobachter gefragt, ob sie einverstanden wären, dem anderen zu helfen, indem sie sich an dessen Stelle begäben, und wenn ja, wie viele Schocks sie bereit wären hinzunehmen. Falls die Teilnehmer ihre Hilfe aus partiell egoistischen Gründen anboten, war von denen, die alle zehn noch verbleibenden Durchgänge ansehen mussten, zu erwarten, dass sie mehr stellvertretenden Schmerz empfinden und daher größere Hilfsbereitschaft zeigen würden. Wurde diese jedoch von weniger eigennützigen Motiven bestimmt, musste auch das bloße Wissen, dass der andere weitere zehn Elektroschocks erhalten würde, zu gleicher Hilfsbereitschaft führen. Die Ergebnisse waren nicht eindeutig. Versuchspersonen, die eigentlich sofort gehen konnten, beschlossen, trotzdem zu bleiben und ungefähr ein Drittel der Elektroschocks des anderen zu übernehmen, was beweist, dass Hilfsbereitschaft auch durch Mitgefühl ohne Aussicht auf künftiges stellvertretendes Leiden ausgelöst werden kann. Doch die Teilnehmer, die bleiben mussten, entschieden, bis zu 60 Prozent mehr Elektroschocks auf sich zu nehmen – Schlussfolgerung: Je mehr stellvertretend erlebten Schmerz die Menschen erwarten, desto größer ist ihre Hilfsbereitschaft.
    Nicht alle Menschen sind gleich empathisch. Empathie-Skalen wie Davis’ Fragebogen messen solche Unterschiede. 14 Menschen, die in der Skala für persönliche Betroffenheit einen höheren Wert erreichen, aktivieren ihre eigenen Emotionen stärker, wenn sie die anderer Menschen beobachten, was vermuten lässt, dass sie eher bereit sind, anderen zu helfen. Das ist tatsächlich der Fall, doch diese Korrelation verändert sich mit dem Alter. Schon Säuglinge erleben das Leid anderer mit: Ganze Säle mit Neugeborenen beginnen zu schreien, wenn einer von ihnen schreit, als erlitten sie alle die gleiche Pein. Hilfeverhalten (Hilfsbereitschaft) beginnt jedoch erst später, sobald wir verstehen, dass die miterlebte Empfindung nicht unser eigener Schmerz, sondern der eines anderen ist und dass sich dieser stellvertretende Schmerz lindern lässt, indem man dem anderen hilft. Auf Empathie-Skalen zeigt sich das im Übergang von persönlicher Betroffenheit, das heißt vom unbehaglichen Gefühl beim Anblick des Leids anderer, zu einer reiferen empathischen Anteilnahme, das heißt dem Bedürfnis, angesichts der Notlage anderer Menschen zu helfen.
    Mitleid bei Tieren
    Wenn gemeinsame Schaltkreise tatsächlich die Grundlage für Ethik und unsere Anteilnahme für andere sind, dann legt der Umstand, dass Tiere Spiegelneuronen besitzen, den Gedanken nahe, dass sie zumindest irgendeine Form der Ethik besitzen – eine Vermutung, die die Forschung bestätigt hat.
    Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einer Gefängniszelle und sind hungrig. Zwei Ketten hängen von der Decke. Wenn Sie an einer von ihnen ziehen, bekommen Sie von einer Abgabevorrichtung ein kleines Stück Brot. Da Sie hungrig sind, ziehen sie immer wieder an der Kette, um sich etwas zu essen zu verschaffen. Doch dann verändert sich etwas. Jedes Mal, wenn Sie an einer bestimmten Kette ziehen, beginnt jemand in der Nachbarzelle zu schreien. Hören Sie also auf, diese Kette zu benutzen? Die meisten von uns würden es tun. Schließlich sind wir human und stolz darauf. Der Psychiater und Psychoanalytiker Jules Masserman und seine Mitarbeiter an der Medizinischen Hochschule der Northwestern University stellten fest, dass Affen sich nicht anders verhalten. 127 Praktisch alle Tiere blieben lieber hungrig, als an einer Kette zu ziehen, die ihnen Nahrung geliefert, aber auch einem anderen Affen Leid

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