Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
die Lektüre einer Geschichte über jemanden, der Schoten isst und den brennenden Schmerz scharfen Chilis spürt, ebenfalls eine wirksame stellvertretende Lernerfahrung sein. 26, 124 Im Licht der neu entdeckten gemeinsamen Schaltkreise wird stellvertretendes Lernen zum Lernen durch Versuch und Irrtum, wobei Versuch und Irrtum in den motorischen Programmen und Belohnungsmechanismen des Beobachters gespiegelt werden.
Konsequenzen für den Unterricht: öffentliches Bestrafen und Belohnen
Lehrer haben die pädagogischen Methoden im Laufe der Jahrtausende vervollkommnet. Die Lehrmethoden, die sie anhand ihrer Erfahrungen entwickelten, haben einen Großteil der Ratschläge vorweggenommen, die sich aus der Entdeckung gemeinsamer Schaltkreise ableiten lassen.
Eine häufige Unterrichtspraxis ist der Gruppenunterricht. Eine Gruppe von zwanzig Schülern sitzt zusammen und sieht zu, wie der Lehrer eine bestimmte Technik vorführt, sagen wir, den Fosbury-Flop. Dann fordert er den ersten Schüler zum Springen auf und wird ihn anschließend vor allen Klassenkameraden für einen erfolgreichen Sprung loben. Auf diese Weise haben alle Mitschüler diese Technik noch einmal beobachten und den Erfolg ihres Kameraden stellvertretend miterleben können. Wenn einer der Schüler in der Zwischenzeit etwas Verbotenes getan hat, etwa die Rückwand der Turnhalle hinaufgeklettert ist, führt der Lehrer ihn nicht in einen anderen Raum, sondern schilt ihn vor allen anderen Schülern. Die öffentliche Bestrafung wird nicht nur das Verhalten des Schülers verändern, sondern auch seinen Kameraden eine stellvertretende Warnung sein, sich genauso zu verhalten. Beide Verfahrensweisen entsprechen exakt dem, was nach der Entdeckung der gemeinsamen Schaltkreise geraten erscheint. Zu erleben, was andere Menschen tun, ist in Verbindung mit dem Erfolg oder Misserfolg, den sie damit haben, eine wertvolle Lernerfahrung.
Gemeinsame Schaltkreise liefern uns einen deutlichen und wichtigen Hinweis darauf, wie mit Sicherheitsmaßnahmen zu verfahren ist. An vielen Arbeitsplätzen dienen diese Maßnahmen dazu, uns vor seltenen Unfällen zu schützen. Das Tragen von Schutzhelmen auf Baustellen ist lästig, weil sie heiß und hinderlich sind. Da die Wahrscheinlichkeit, dass einem etwas auf den Kopf fällt, gering ist, verzichten viele Arbeiter auf den Helm. Die Vorführung eines eindringlichen Films, der zeigt, wie ein schwerer Gegenstand auf einen Arbeiter fällt, der daraufhin an den Rollstuhl gefesselt ist und der Familie nicht mehr als Haupternährer zur Verfügung steht, kann eine sehr unangenehme stellvertretende Erfahrung sein, die jedoch die gemeinsamen Schaltkreise stark aktivieren wird. Die Bauarbeiter dürften in Zukunft weit eher bereit sein, ihre Helme zu tragen.
Wie wir am Beispiel des Schmerzes gesehen haben, beeinflusst die Beziehung, in der die Beteiligten zueinander stehen, in hohem Maße, wie sehr sie die Gefühle anderer mitempfinden. 67 Insbesondere bei Männern kann der Anblick von anderen, die Schmerzen erleiden, durchaus angenehme Empfindungen auslösen, wenn sich diese Personen zuvor unfair verhalten haben. Für den Unterricht bedeutet dies, dass die Schüler – wenn stellvertretende Belohnung und Bestrafung wirksam sein sollen – unbedingt positive Gefühle füreinander haben müssen. Ist das nicht der Fall, könnte der Anblick eines Mitschülers, der bestraft wird, kein geeignetes Lerndreieck entstehen lassen, da das Belohnungserlebnis angesichts der Bestrafung des anderen die Verknüpfung zwischen dem Verhalten und der Situation verstärken könnte. Umgekehrt kann der Anblick eines Jungen, der für seine gute Hausarbeit gelobt wird, sehr negative Gefühle bei seinen Mitschülern auslösen, wenn sie untereinander in starkem Konkurrenzverhältnis stehen.
Maßnahmen zur Steigerung des »Teamgeistes« in der Klasse würden wahrscheinlich dem stellvertretenden Lernen der Schüler unmittelbar zugutekommen – abgesehen davon, dass Schule und Unterricht sich dann für alle Beteiligten sehr viel angenehmer darstellen würden.
In traditionellen Lernumgebungen sind sich die meisten Lehrer dieser Problematik vollkommen bewusst, daher können gemeinsame Schaltkreise im Wesentlichen nur deutlich machen, warum diese Methoden klappen. Beim Fernlernen mag die Situation anders sein. Lernprogramme im Internet sind nicht unbedingt dazu geeignet, den Schülern oder Studenten zu ermöglichen, die Lernerfahrungen anderer Studenten mitzuerleben. In diesen
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