Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Psychopathen.
Die schwarze Kunst, an andere ohne Empathie zu denken
Psychopathen verstehen sich geschickt darauf, andere Menschen zu beeinflussen und zu benutzen. Im Gegensatz zu Autisten, für die die Geistesverfassung anderer Menschen ein Rätsel bleibt, scheint es für Psychopathen leicht zu sein, das Gefühlsleben anderer logisch zu analysieren, um ihr Verhalten vorherzusagen und zu manipulieren. Viele Soziopathen machen sich über ihre Mitmenschen lustig: Man könne sie ausnützen, weil sie sich einfach zu leicht manipulieren ließen.
Doch der Umstand, dass Psychopathen keine Betroffenheitsgefühle kennen, ist natürlich äußerst praktisch, denn selbst Betroffenheit zu empfinden oder die Betroffenheit anderer empathisch mitzuerleben, ist aufreibend – und der Verfolgung der eigenen Ziele häufig nicht eben dienlich.
Wenn ein bösartiger Wissenschaftler in einem Science-Fic tion-Film einen vollkommenen Verbrecher erschaffen sollte, würde er sicherlich ein Geschöpf herstellen, das die Handlungen, Ziele, Bedürfnisse und Gefühle anderer verstandesmäßig erfassen könnte und gleichzeitig die Fähigkeit besäße, die Empfänglichkeit für die eigene Betroffenheit und die Betroffenheit anderer abzuschalten, so wie Data in Star Trek seinen Emotionschip an- und abschalten konnte. Jetzt könnte das Geschöpf mit Hilfe seiner kalten Intelligenz andere manipulieren und seine Gefühle ausklammern, wenn sie seinen kriminellen Absichten im Wege stünden. Die Fähigkeit, andere zu betrügen und auszunutzen, wäre frei von allen Einschränkungen des Gewissens, und ein kaltblütiger, gerissener Psychopath wäre geboren. 130
Die meisten Menschen würden sich wahrscheinlich über die Fähigkeit freuen, Gefühle wie Furcht und Schuld zumindest zeitweise abschalten zu können. Doch das geht nicht. Moralisch sind wir nicht durch unsere Fähigkeit , empathisch zu sein, sondern durch unsere Unfähigkeit , die Empathie zum Schweigen zu bringen. Ein künstlicher Mensch, der als Verbrecher konstruiert wäre, würde sich von uns darin unterscheiden, dass er fest schlafen könnte, nachdem er jemanden getötet hat.
Natürlich werden echte Psychopathen nicht von diabolischen Wissenschaftlern konstruiert. Doch dank diesem Gedankenexperiment können wir besser verstehen, wie eine Kombination aus Intelligenz und einem Mangel an Gefühl und Empathie ein leistungsfähiges Doppelmerkmal wäre, das die Evolution begünstigen würde, wenn es darum ginge, Menschen zu entwickeln, die vom Verbrechen leben. So betrachtet, können wir einem der Psychopathen aus unserer Studie nur zustimmen, wenn er sagt: »Ich denke, mein hoher Psychopathie-Wert ist eine Begabung, keine Krankheit.« Das Experiment verdeutlicht auch einen entscheidenden Unterschied zwischen Autismus und Psychopathie: Autisten haben Defizite in Hinblick auf ihre Empathie sowie auf ihre Fähigkeit, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen, während Psychopathen in der Lage sind, ihre Empathie abzustellen, ohne deshalb ihre Fähigkeit zu beeinträchtigen, die Geistesverfassung anderer logisch zu erfassen.
In Tania Singers Studie empfanden Frauen den Schmerz eines anderen Versuchsteilnehmers mit, als wäre stellvertretendes Leiden ein automatischer Prozess für sie, während Männer dieses Mitleiden offenbar unterdrücken konnten, wenn sich der andere ihnen gegenüber unfair verhalten hatte. 119 Viele Männer passen ihre Empathie auch an hierarchische Beziehungen an. Ein Spitzenmanager empfindet mehr Empathie, wenn er einen anderen Manager feuert, als wenn er einen Arbeiter entlässt. Dieser Unterschied könnte darauf zurückgehen, dass Gleichgestellte weit eher in der Lage sind, sich zu revanchieren. In diesem Zusammenhang sind die Überlegenheitsgefühle von Psychopathen vielleicht die extreme Ausformung einer normalen Tendenz, nicht allen Menschen die gleiche Empathie entgegenzubringen, wozu auch der Umstand passt, dass Psychopathie häufiger bei Männern als bei Frauen beobachtet wird. 134
Eine umfangreiche Zwillingsstudie zeigt, dass bei eineiigen Zwillingen schon im Alter von sieben Jahren ein Kind, dessen Zwillingsgeschwister einen Mangel an Empathie für Betroffenheit aufweist, eine viel höhere Wahrscheinlichkeit für das gleiche Defizit besitzt als ein entsprechender zweieiiger Zwilling. Daraus ergibt sich der Schluss, dass die Gene – und nicht die Umwelt, die eineiige und zweieiige Zwillinge in gleichem Maße teilen – dieses psychopathische
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