Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
empfinden Sie? Die meisten Menschen haben ein unangenehmes Gefühl, in dem das Leid anklingt, das wir zugefügt haben. Entscheidend ist, dass diese unangenehme Empfindung in uns den Wunsch weckt, wir hätten anders gehandelt, und uns davon abhält, dergleichen zu widerholen. Tatsächlich können wir Kinder am besten lehren, anderen nicht wehzutun oder sie zu kränken, indem wir ihre empathische Betroffenheit verstärken und sie darauf aufmerksam machen, was sie anderen antun. 129 Mit Hilfe dieser empathischen Anteilnahme lernen die meisten normalen Kinder rasch, dass Regelverletzungen, die Menschen Leid zufügen (etwa »Man schlägt andere nicht«), schlimmer sind und einer ganz anderen Kategorie angehören als solche, die niemanden kränken (etwa »Man spricht nicht mit vollem Mund«).
Psychopathen scheinen gegen solche Einflüsse relativ immun zu sein und können sich das Unrecht, dass sie anderen zugefügt haben, mit erschreckender Gleichgültigkeit ins Gedächtnis rufen. »Er hatte sich das doch selbst zuzuschreiben«, sagte einer der von Hare interviewten Strafgefangenen, der einen Mann im Streit um eine Kneipenzeche ermordet hatte. »Jeder konnte sehen, dass ich an dem Abend in einer üblen Laune war. Warum hat er mich gepiesackt?«, fuhr er fort. »Jedenfalls hat der Bursche nicht gelitten. Ein Messerstich in eine Arterie ist die leichteste Art zu gehen« 130 . Anderen schweren Schaden zuzufügen, ist für sie eine ebenso triviale Regelverletzung wie für uns andere, mit vollem Mund zu sprechen. Für sie ist Mord eher der Bruch einer konventionellen als einer moralischen Regel. Das unterscheidet Psychopathen von uns und von nicht-psychopathischen Kriminellen. Zwar sind wir alle fähig, andere Menschen zu kränken oder zu schädigen, doch in der Regel werden wir uns deswegen schuldig fühlen. Psychopathen nicht. »Schuld? … Eine Illusion … und sehr ungesund«, meinte Ted Bundy. 131
Der mangelnde Sinn des Psychopathen für Betroffenheit ist nicht auf seine Wahrnehmung anderer beschränkt. Er spricht von seinen negativen Emotionen abstrakt und oberflächlich, als seien ihm die Wörter bekannt, als wüsste er aber nicht recht, welche Gefühle normalerweise mit ihnen verknüpft sind. Die meisten Menschen erleben, wenn sie Angst haben, eine Fülle von Körperempfindungen: Die Hände werden feucht, die Herzfrequenz steigt, der Magen krampft sich zusammen. Bei Psychopathen sind diese physiologischen Reaktionen lange nicht so ausgeprägt. 132, 133 »Wenn ich eine Bank ausraube«, sagte er, »merke ich, dass der Mensch an der Kasse zittert oder nicht mehr sprechen kann. Eine Kassiererin hat über das ganze Geld gekotzt. Sie muss ziemlich fertig gewesen sein, aber ich weiß nicht, wieso«, 130 (Hare, S. 47).
Die emotionale Welt des Psychopathen scheint von den Grundtrieben eines Löwen beherrscht – Gier, Hunger und Enttäuschung –, und nicht von Furcht, Wut, Glück, Ekel, Überraschung und Traurigkeit, die für das Gefühlsleben der meisten erwachsenen Menschen charakteristisch sind.
Sie kennen keine Furcht
Aus dem Blickwinkel der gemeinsamen Schaltkreise spricht vieles dafür, dass es eine Kausalbeziehung zwischen der Oberflächlichkeit der Psychopathen und ihrem Empathiedefizit gibt. Wie Inselläsionen zeigen, kann die Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, eine notwendige Voraussetzung für das Mitempfinden der Gefühle anderer sein. 52, 53 Wenn ein Psychopath die Betroffenheit nicht so intensiv empfindet wie die meisten von uns, fehlt seinen gemeinsamen Schaltkreisen genau die Stimme, in der die Betroffenheit anderer Menschen nachklingt.
Einer von Hares Interviewpartnern mit hohen Werten auf der Psychopathie-Checkliste, hat diese Verbindung von Gefühl und Empathie anschaulich zum Ausdruck gebracht: »[Meine Opfer] haben Angst, oder? Aber ich verstehe es nicht wirklich. Ich habe schon selbst Angst gehabt, ich fand das nicht unangenehm« 130 . Wie kann Furcht nicht unangenehm sein? Dieser Psychopath hat das Gefühl offensichtlich nie erlebt. Er hat gelernt, das Wort »Furcht« im richtigen Zusammenhang zu verwenden (wenn beispielsweise ein Revolver auf seinen Kopf gerichtet ist), verfügt aber nicht über die physiologischen und affektiven Konnotationen, die es für die anderen Menschen so unangenehm macht. Die gemeinsamen Schaltkreise in seinem Gehirn können nichts mit dem Gesichts- und Verhaltensausdruck seiner Opfer assoziieren, daher bleiben deren Reaktionen nichtssagend und leer für den
Weitere Kostenlose Bücher