Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
unterzogen wurden, scheinen sogar häufiger rückfällig zu werden als Psychopathen ohne Therapien. Von dem Befund, dass Psychopathen eine verringerte Aktivität in gemeinsamen Schaltkreisen erkennen lassen, erhoffen wir uns Anregungen zu neuen Therapien. Zu diesem Zweck suchen wir gegenwärtig nach geeigneten Tiermodellen für Empathie-Studien, in denen wir herausfinden wollen, wie sich gemeinsame Schaltkreise beeinflussen lassen.
Moralische Schutzschilde
Das Talent der Psychopathen, ihre Empathie zum Schweigen zu bringen, hat weitreichende und destabilisierende Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wenn wir alle in gleichem Maße empathisch und von unseren moralischen Empfindungen bestimmt wären, könnten wir einander vorbehaltlos und glücklich vertrauen. Leider hätte in einer solchen Welt eine Mutation, die ihrem Träger ermöglichte, seine Empathie abzuschalten, allzu leichtes Spiel. Um uns selbst vor Ausbeutung zu schützen, haben wir moralische Schutzschilde entwickelt – unter anderem das Recht.
Unsere Intuition sagt uns, dass wir, wenn wir anderen Menschen Leid antun, uns selbst Leid zufügen, und unsere Gesetze und Ethik institutionalisieren und verstärken dieses Gefühl. Wie alle natürlichen Sprachen bestimmte universelle Merkmale gemein haben, so bekennen sich auch alle Weltreligionen, die mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung erfassen, zu der gleichen Goldenen Regel. Jede Religion formuliert diese Regel etwas anders. Jesus sagt: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten« (Matthäus 7,12); der Prophet Mohammed lehrt: »Keiner von euch ist gläubig, bis er für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht« (13. Hadit im Buch »An-Nawawi: Vierzig Hadite«); im Mahabharata heißt es: »Man soll niemals einem Anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit« (Mahabharata 5, 1517); Buddha sagt: »Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erscheinen« (Udanavarga, 5,18); und Rabbi Hillel fasst die ganze Thora wie folgt zusammen: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Thora, und alles andere ist nur ihre Auslegung, geh und lerne sie« (Talmud, Shabbat 31a).
Doch sie alle stimmen auf fast unheimliche Weise in ihrer Kernbotschaft überein: Behandle andere, wie du behandelt werden möchtest.
Die Universalität bestimmter Sprachregeln verrät uns etwas über das Gehirn – dass nämlich alle menschlichen Gehirne aufgrund ihrer Verdrahtung das Erlernen dieser Regeln erleichtern und dass nicht-menschliche Gehirne große Schwierigkeiten damit haben. 135 Die Universalität der Empathie als Grundlage von Ethik und Religiosität teilt uns etwas Ähnliches mit. Das menschliche Gehirn ist für Empathie verdrahtet, daher ist der Umstand, dass allen erfolgreichen Religionen diese Goldene Regel gemeinsam ist, kein Zufall. Da sich in ihr eine Funktion unseres Gehirns manifestiert, sind Religionen, die sie in den Mittelpunkt ihrer Lehre stellen, leichter zu akzeptieren und eher mit unserem Denken zu vereinbaren als Religionen, bei denen das nicht der Fall ist.
Was du nicht willst, dass man dir tu’,
das füg auch keinem anderen zu
Wie ideal ethische Gesetze sich mit den gemeinsamen Schaltkreisen verflechten, zeigt sich besonders deutlich an einem wichtigen Detail der Goldenen Regel. Die neuronalen Aktivitätsmuster, die sich aus den gemeinsamen Schaltkreisen ergeben, entsprechen nicht genau dem, was dem anderen zustößt, sondern dem, was wir an seiner Stelle gefühlt hätten. Wir haben das vor allem am Beispiel des Handelns gesehen. 19, 90 Infolgedessen teilen uns die gemeinsamen Schaltkreise nicht direkt mit, welchen Wert die Handlung für den anderen hat, sondern veranlassen uns zu der Überlegung, welchen Wert sie für uns hätte, wenn wir an seiner Stelle wären. Wir alle wissen, welche Auswirkungen dieser feine Unterschied auf die Resultate unseres gutgemeinten Verhaltens haben kann. Häufig sind wir versucht, den Menschen zu geben, wonach es uns selbst verlangt, und sind dann manchmal enttäuscht, wenn wir feststellen, dass sie etwas anderes vorziehen.
Diese egozentrische Wahrnehmungsverzerrung gemeinsamer Schaltkreise schlägt sich sehr auffällig in der Goldenen Regel der Ethik nieder, die uns nicht rät, anderen zuzufügen, was gut für sie ist, sondern, was wir wünschen,
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