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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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gekommen. Für ihn hatte »Banane Nim isst« den gleichen positiven Nachrichtenwert wie »Nim isst Banane«. Die Unfähigkeit des Schimpansen, Wortstellungen zu verstehen, steht in krassem Gegensatz zu den tauben Kindern in Nicaragua, die spontan, ohne einschlägige Unterweisung, eine Grammatik erfanden. Es gibt nicht nur kein Beispiel für spontanen Grammatikgebrauch bei anderen Primaten, sondern auch keines, das erkennen ließe, dass unsere nächsten lebenden Verwandten, die Schimpansen, auch bei intensivstem Training zum Grammatikerwerb fähig wären. Wie konnte sich dann Grammatik entwickeln?
    Schauen wir uns kurz an, worum es in der Grammatik eigentlich geht. IV Grammatik ist das strukturelle und logische Regelwerk, das Sprache Bedeutung verleiht. Bei uns haben Elemente, die in unterschiedlicher Reihenfolge stehen, unterschiedliche Bedeutung (Mann beißt Hund ≠ Hund beißt Mann). Grammatik verleiht der Sprache auch hierarchische Organisation und Rekursivität. Ein Satz ist nicht einfach eine Wortkette, sondern besitzt eine verborgene Struktur. Bei einem Satz wie: »Der hübsche junge Mann küsste das schöne Mädchen leidenschaftlich«, spüren wir, dass »hübsch« und »Mann« irgendwie enger zusammengehören als »junge« und »küsste«, obwohl beide Wortgruppen in dem Satz gleich weit voneinander entfernt stehen. Wir merken also, dass der Satz eine Hierarchie besitzt, in der die vier Wörter »Der hübsche junge Mann« eine Einheit bilden (das Subjekt, das heißt das Satzglied, das die Handlung ausführte), »küsste leidenschaftlich« eine weitere Einheit darstellt (das Verb, das zum Ausdruck bringt, was getan wird) und schließlich »das schöne Mädchen« die dritte Einheit ist (das Objekt, das Gegenstand der Handlung ist). Und obwohl »küsste« und »leidenschaftlich« weit voneinander entfernt stehen, ist uns doch klar, dass sie zusammengehören.
    Wenn ich Ihnen nun mitteile, dass der Mann tatsächlich ein anderes Mädchen am Tag zuvor geküsst hat, können Sie diesen ganzen Satz in den obigen stopfen und der Hierarchie Rekursivität verleihen: »Der hübsche junge Mann, der gestern ein anderes schönes Mädchen geküsst hatte, küsste dieses schöne Mädchen heute leidenschaftlich.« Wir können Sätze in andere Sätze beliebig oft einbetten.
    Zwar mögen die Prinzipien der Wortfolge und verborgenen Hierarchie im Hinblick auf die Sprache eine Besonderheit des Menschen sein, doch würde ich meinen, dass sie keine menschliche Besonderheit im Allgemeinen sind. Es gibt einen Bereich, in dem jeder Primat diese Prinzipien routinemäßig beherrscht: das Handeln. Betrachten wir beispielsweise den Vorgang des Essens: die Hand nach der Beere ausstrecken, die Beere ergreifen, sie in den Mund stecken, die Finger aus dem Mund ziehen, die Beere kauen. Diese Handlungsfolge ist schon an sich extrem hierarchisch, weil jedes Element selbst aus einer Kaskade von motorischen Befehlen besteht (nach der Beere greifen, setzt die koordinierte Aktivität vieler Muskeln voraus, und der Ablauf ist immer anders, je nachdem, wie die Beere geformt ist, ob es Zweigen zwischen dem Akteur und der Beere auszuweichen gilt usw.), doch das gesamte Handlungsgefüge kann rekursiv werden, wenn an die Stelle der Beere eine Banane tritt. Nachdem der Schimpanse die Banane ergriffen hat und bevor er sie in den Mund steckt, fasst er jetzt mit der anderen Hand die Bananenschale, reißt die Schale an einer Seite auf, fasst wieder nach oben, reißt die nächste Seite auf und fährt damit fort, bis die ganze Schale beseitigt ist und er mit dem ursprünglichen Handlungsplan fortfahren kann: die Frucht in den Mund stecken usw. Eine Beschreibung wie der Satz »Ich aß die Banane« kann rekursiv erweitert werden zu »Ich aß die Banane, die ich geschält hatte«. So lassen sich Handlungspläne von Schimpansen rekursiv durch andere Handlungspläne ausbauen. Wie die Sprache ein begrenztes Vokabular von Wörtern zu einer unendlichen Zahl verschiedener hierarchischer Sätze kombiniert, organisieren Primaten ein begrenztes Vokabular von Handlungen (Greifen, Handausstrecken, Zerreißen usw.) zu einer unendlichen Zahl hierarchischer Handlungspläne.
    Daher halte ich es nur für logisch, dass der Teil des prämotorischen Kortex, der für die Grammatik zuständig ist, auch unsere motorischen Aktivitäten vorbereitet. Offenbar fällt die Grammatik in die Zuständigkeit der Gehirnregion, die bei Tier- und Menschenaffen hierarchische Handlungsgefüge

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