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Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)

Titel: Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Keysers
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gleichen Kategorie zeigte. Anschließend müsste das Kind sagen, ob es gerade ein Playback oder einen Livestream gesehen habe. Der Videostream könnte so eingestellt werden, dass er vor allem zur Musterung der oberen Hälfte des Gesichtsausdrucks einlüde. Solche therapeutischen Videospiele haben allerdings einen Haken: Sie mögen zwar zur Entwicklung willkürlicher Nachahmungsfähigkeiten beitragen, dürften aber außerhalb der Spiele kaum die spontane Nachahmung des Kindes verbessern. Ihr Einsatz empfiehlt sich also vor allem in Fällen, in denen das Kind Probleme mit der willkürlichen Imitation hat, jedoch nicht, wenn das Kind die Nachahmung beherrscht, sie aber nicht spontan nutzt.
    Der wichtigste Faktor schließlich – und zwar nicht nur für Autisten, sondern für die gesunde Entwicklung von Kindern generell – ist echte, kontingente soziale Interaktion. Leider verbringen Kinder immer häufiger viele Stunden vor dem Fernseher. Im Gegensatz zu einem lebendigen Menschen, der auf das Verhalten und die Gefühle des Kindes reagiert, bleibt der Fernsehschirm völlig ungerührt. Dabei ist meine größte Sorge gar nicht so sehr, dass das Fernsehen als solches die kindliche Entwicklung negativ beeinflusst, sondern dass jede vor dem Fernseher verbrachte Stunde eine Stunde weniger in Gegenwart eines reagierenden Menschen ist. So erlebt das Kind seltener, dass beobachtete Gesichts- und Körperbewegungen den eigenen Zuständen entsprechen. Dieser Umstand könnte die normale Entwick lung gemeinsamer Schaltkreise durch Hebb’sches Lernen stö ren. Bei Autisten, deren Gehirn möglicherweise Probleme hat, solche Assoziationen in verstärkte synaptische Verbindungen umzuwandeln, könnte sich diese Einbuße an Lerngelegenheiten besonders nachteilig auswirken. Der Umstand, dass es möglicherweise in der Natur von Autisten liegt, weniger Interesse an sozialen Reizen aufzubringen, mag noch zur Verschlimmerung dieser Situation beitragen: Da sie sich nicht aktiv um soziale Kontakte bemühen, sind sie eher bereit, soziale Interaktionen durch nicht-kontingente, nicht-soziale Aktivitäten zu ersetzen.
    Ist ein zerbrochener Spiegel ein gebrochenes Herz?
    Wir haben gesehen, dass Nicht-Autisten ihre gemeinsamen Schaltkreise spontan mobilisieren, während Autisten offenbar seltener dazu neigen. Ihr Verständnis für die soziale Umwelt erscheint geringer. Funktionsbeeinträchtigungen gemeinsamer Schaltkreise sind nicht auf Autismus-Spektrum-Störungen beschränkt. Es gibt Situationen in unser aller Leben, in denen uns die gemeinsamen Schaltkreise hinters Licht führen. An ein Beispiel aus meinem eigenen Leben erinnere ich mich noch sehr genau.
    Sommer 2000. Antonella, meine damalige Freundin, und ich waren auf dem Weg zur Hochzeit einer Freundin. Es war ein heißer Sommertag in Piemont, und wir kamen wie immer zu spät, aber wir lachten darüber. Ich öffnete das Fenster des alten Lancia Y und spürte eine herrliche warme Brise. Süß ertönte das Lied der Zikaden. Ich war glücklich, doch das Glück sollte nicht von Dauer sein. Aus heiterem Himmel gerieten Antonella und ich in die schönste Auseinandersetzung. Sie habe es satt, sagte sie, dass sie nie einen richtigen Streit mit mir vom Zaun brechen könne. Es sei nichts Schlimmes, wenn mal keine Harmonie herrsche. Sie brauche einen Mann, an dem sie von Zeit zu Zeit herummäkeln könne. So gehe es jedenfalls nicht weiter.
    Ich war betroffen. Diese Auseinandersetzung hatte ich überhaupt nicht kommen sehen. Ich hatte gedacht, es sei für uns beide ein wunderschöner Tag – sie schien genauso guter Stimmung wie ich zu sein. Doch offenbar hatte sich da in ihrem Inneren schon seit Längerem etwas zusammengebraut. Meine fröhliche Stimmung verwandelte sich in ein Gefühl schmerzlicher Distanz. Ich wurde daran erinnert, wie viel von dem, was in ihrem Inneren vor sich ging, für mich intuitiv nicht zugänglich war. Zu solchen Vorfällen kam es immer häufiger, sodass meine Fähigkeit zur Affekteinstimmung XV mich zunehmend im Stich ließ. Schließlich führte das zum Ende unserer Beziehung.
    Ich denke, ich weiß, was an diesem Tag und in all den anderen Situationen, in denen sich dieses Gefühl einstellte, falsch gelaufen ist – die gemeinsamen Schaltkreise, die die Grundlage meiner sozialen Intuition und meiner Affekteinstimmung sind, orientierten sich an meiner eigenen Art zu fühlen und zu handeln, um Antonellas Geistesverfassung zu erkennen. Auf unserer Fahrt zu dieser Hochzeit deuteten

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