Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
die geringere Aktivität zeigten, woraus folgt, dass bei autistischen Kindern bestimmte Aspekte ihrer motorischen Simulation und emotionalen Reaktion weniger intensiv ausfallen als bei nicht-autistischen Kindern.
Jojanneke Bastiaansen, einer meiner Doktoranden, Kollegen aus meinem Institut und ich hatten ein ähnliches Experiment mit autistischen Erwachsenen durchgeführt. Unsere Teilnehmer sahen sich in Filmausschnitten verschiedene Gesichtsausdrücke an, darunter auch solche, die Ekel zeigten. Anschließend kamen sie in den Scanner, wo wir sie mit Hilfe unangenehmer Geschmackserlebnisse in einen bestimmten Gefühlszustand versetzten. Um die Gehirnregionen zu lokalisieren, die für die Hervorbringung der Gesichtsausdrücke verantwortlich sind, forderten wir sie auf, ihr Gesicht entsprechend zu verziehen. Im Gegensatz zu den Ergebnissen, die Dapretto und ihre Kollegen bei autistischen Kindern fanden, zeigte unsere Studie, dass autistische Erwachsene im Durchschnitt die für Emotionen zuständige Insel und ihre motorischen Regionen mindestens genauso intensiv aktivieren wie nicht-autistische Teilnehmer (einige ältere autistische Teilnehmer sogar stärker als Nicht-Autisten). Die medial-präfrontalen Regionen, die für bewusste Gedanken über andere Personen zuständig sind, waren bei ihnen im Schnitt sogar noch aktiver als bei den meisten von uns. Faszinierend war jedoch, dass bei den nicht-autistischen Versuchspersonen die Aktivität in den motorischen Regionen mit wachsendem Alter abnahm, bei den autistischen Teilnehmern jedoch das Gegenteil zu beobachten war. Die Aktivität im Spiegelsystem der autistischen Versuchspersonen war ungewöhnlich niedrig bei den jüngsten Teilnehmern, die wir untersuchten – rund 18 Jahre alt –, um sich dann bis zum 30. Lebensjahr zu normalisieren. Dieser Alterseffekt erklärt, warum Mirella Dapretto im Spiegelsystem der Kinder eine verminderte Aktivität feststellt. Dieses Defizit konnten wir bei Erwachsenen mittleren Alters nicht mehr beobachten. So entsteht der Eindruck, dass beim Autismus das Spiegelsystem nicht zerstört, sondern einfach verzögert wird. Folgerichtig zeigte sich bei unseren Versuchsteilnehmern, dass sich ihre sozialen Fähigkeiten in dem Maße verbesserten, wie sich die Funktion des Spiegelsystems normalisierte: Die älteren mit erhöhter Aktivität des Spiegelsystems hatten mehr Freunde und waren besser in der Lage, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Das deckt sich mit den Ergebnissen anderer Forschungsgruppen, die zeigen, dass bei Autismus auch Nachahmungsprobleme mit dem Alter schwinden. 97, 102 Weitere Untersuchungen werden erforderlich sein, um genau festzulegen, wann bei Autisten eine verringerte Aktivität ihrer gemeinsamen Schaltkreise vorliegt und wie sich diese Unterschiede mit zunehmendem Alter verringern können.
An dieser altersbedingten Normalisierung der Spiegelaktivität und der sozialen Fähigkeiten finde ich vor allem interessant, dass das autistische Gehirn auf hohem Funktionsniveau offenbar über Mechanismen verfügt, die seinem Besitzer den Weg zu verbesserter sozialer Integration bahnen. Wenn wir uns genauer mit den Mechanismen beschäftigen, die zur Normalisierung der Spiegelaktivität beitragen, können wir vielleicht einen natürlichen Prozess bestimmen, durch dessen therapeutische Beschleunigung sich das Leben von Autisten verbessern ließe.
Autismus ist komplexer als ein zerbrochener Spiegel
Im Augenblick können wir nur über die Frage spekulieren, welche Besonderheiten im Gehirn von Autisten dafür verantwortlich sind, dass sie so wenig Interesse an ihrer sozialen Umwelt finden und dass ihnen der intuitive Zugang zu ihr so schwer fällt, allerdings lassen zahlreiche Forschungsdaten darauf schließen, dass das autistische Gehirn grundsätzlichere Schwierigkeiten hat, die über das Spiegelsystem hinausgehen.
Elegante genetische Studien haben gezeigt, dass es bei bestimmten Formen des Autismus Probleme mit zwei Proteinfamilien gibt, den Neurexinen und Neuroliginen. Diese Moleküle sind Zelladhäsionsproteine. Sie tragen dazu bei, dass zwei Neuronen an der Synapse zusammenhaften, durch die sie kommunizieren, und haben wesentlichen Anteil an den Veränderung, die beim Hebb’schen Lernen stattfinden, da sie regulieren, wie intensiv zwei Neuronen mittels einer gegebenen Synapse kommunizieren können. 104 Mit Hilfe von Methoden, die messen, wie eng der Kontakt zwischen verschiedenen Arealen im aktiven Gehirn ist, hat man
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