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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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die Liebe zu lernen. Über Sexualität zu reden haben sie kaum geübt. Der gesamte Wortschatz fehlt ihnen. Über weibliche und männliche Körperreaktionen wissen sie anfangs wenig. Niels Biedermann empfiehlt den Kolonisten, Filme über Sexualität anzuschauen, es können ruhig Pornos sein, sagt er. In Deutschland werden sie eifrige Fernsehzuschauer; Gudrun bevorzugt die Nachmittagsserien, Wolfgang schaut eher nachts. Oft fällt es ihnen leichter, über die Erlebnisse des anderen zu reden. So gibt Wolfgang Auskunft über die Beziehung zwischen Gudrun und Alfred, erzählt, wie viel Schmerz diese Liebe ihr bereitete.Und Gudrun weiß, wie sehr Wolfgang gekämpft hat, um seinen Freund Karl Stricker mit Kaffee und mit viel Zuspruch am Leben zu halten, und wie sehr er ihn vermisst.
    »Eigentlich lernen wir uns erst richtig kennen, seit wir in Deutschland sind«, sagt Gudrun.
    Wolfgang ist so sanft zu ihr wie am Anfang. »Ich habe immer akzeptiert, wenn sie mal nicht mag. Was soll ich denn machen? Ich will sie doch nicht kaputt machen, und ich will sie nicht verlieren. Ich hab sie doch gerade erst gefunden.«
    Manchmal denkt er an den Moment auf der Zeltfreizeit in Groß Schwülper zurück, als er neun Jahre alt war und ein Mädchen sah, bei dessen Anblick er dachte: Das ist sie. Meine Frau. Er hat, sagt er, auch keine weitere Liebschaft gehabt, bis jetzt, bis ins Alter.
Alltag und ein wenig Freude
    Seit 2005 leben Gudrun und Wolfgang Müller nun in Deutschland. Zwei unauffällige, bescheidene Menschen, die ihren Weg suchen. Nicht den, den Paul Schäfer ihnen bestimmt hat. Nicht den des fundamentalistischen Predigers Ewald Frank aus Krefeld, der 2004 nach der Öffnung der Kolonie in einer Blitzaktion nach Chile reiste, um die verwirrten, verlassenen Schäflein zu taufen. Wie viele Taufen diese Menschen wohl schon erlebt haben? Und jede richtiger als die davor?
    Anfang 2008 sagen sie viele Stunden lang vor der Staatsanwaltschaft Bonn über ihre Erfahrungen aus. Von den Beamten, die extra angereist waren, hörten sie nie wieder. Irgendwann wird das Verfahren eingestellt.
    Dreimal sind Wolfgang und Gudrun in Deutschland schon umgezogen. Viele Gespräche für dieses Buch finden in ihrer zweiten Wohnung statt. Sie hat einen schmalen Balkon, den die beiden liebevoll mit Stiefmütterchen, bemalten Tonfiguren, Vogelhäuschen, Kräutern und vielen bunten Kleinigkeiten geschmückt haben. Über die Gestaltung ihres Balkons, ihrer Wohnung, die Auswahl ihrer Möbel, ihrer Tapeten, ihres Wandschmucks selbst zu entscheiden, ist ein überwältigendes neues Privileg für beide. Nur wer sein Leben in einem Gefängnis ohne Zeitung und Fernsehen verbracht hat, weiß, was das bedeutet. Welche Herausforderung das mit sich bringt.
    Einmal Ruderboot fahren, spazieren gehen, wann sie wollen, einfach mal nichts tun, das sind die kleinen Vergnügen, die sie sich leisten.
    Eine Weile versucht Wolfgang als Handwerker Fuß zu fassen. Gern ist er auf Baumärkten unterwegs, gibt Ratschläge bei Malereibedarf. Er wirkt so fachkundig, dass eine Anstellung möglich scheint. Aber er braucht einen Gesellenbrief. Da schreibt er an seinen alten Meister in der Villa Baviera, Gerhard Mücke, den Mauk, den er seit 1958 kennt, unter dessen Aufsicht er in der Colonia Dignidad Autos gesandstrahlt und neu lackiert hat. Darunter auch Autos der »Verschwundenen«.
    Er bittet Mauk, ihm einen Gesellenbrief oder wenigstens ein Empfehlungsschreiben zu schicken; er wisse doch, wie gern und wie gut Wolfgang arbeite. Das sei nicht möglich, lässt Mücke ihm ausrichten.
    »Sie haben mich und Wolfgang nicht kleingekriegt«, erklärt Gudrun, »weil der eiserne Wille da war, zu überleben, sich durchzukämpfen und immer wieder neue Kraft und Hoffnung zu schöpfen von unserem Herrgott, der über uns steht und der das Leben in der Hand hat.«
    Erstaunlicherweise scheint keines der langjährigen Mitglieder der Colonia Dignidad, die für dieses Buch Interviews gaben, den Glauben an Gott verloren zu haben.
    Wolfgang und Gudrun sind beide körperlich krank. Durch die Zwangsarbeit sind ihre Knochen und Gelenke schwer geschädigt. Gudrun leidet immer wieder an Drehschwindel, den sie auf die Folter und die Elektroschocks zurückführt. Einmal ist sie schon mit dem Fahrrad vor ein Auto gefallen. Da hat sie das Fahrradfahren aufgegeben. Auf einem Ohr ist sie taub. »Von den Ohrfeigen«, bestätigt ihr ein Arzt. Vier Operationen am Gehörgang hat sie hinter sich. Das Schlagen hat danach nicht

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