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Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte

Titel: Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Froehling
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»kleiner Leute« – der Verkäuferin Gudrun aus Graz und des Malers Wolfgang aus Lutter am Barenberge – eine politische Affäre mit höchster Geheimhaltungsstufe zu bleiben.
    *
    Lange Zeit verhalten sich die Kolonisten abwehrend oder feindselig den Außenstehenden, den »Weltmenschen« gegenüber. Die meisten fühlen sich als Verräter, wenn sie Fremden überhaupt zuhören. Einige besuchen ihren tío permanente regelmäßig im Gefängnis, versorgen ihn mit Leckerbissen und Informationen, holen Aufträge und Befehle ab. Auch alte Frauen machen sich auf den Weg; jedes Mal müssen sie sich vor den Gefängniswärtern ausziehen und sich einer Leibesvisitation unterziehen, damit keine Waffen hineingeschmuggelt werden. Eine demütigende Prozedur. Sie kommen dennoch wieder.
    Dann entschließt sich eine Gruppe von etwa fünfzig Personen, an Gesprächen mit dem Psychotherapeutenteam von Niels Biedermann teilzunehmen. Die Mitarbeiter des Teams verfassen später mehrere Aufsätze über ihre Arbeit. Darin schildern sie sehr offen, wie sie die Gemeinschaft in der Villa Baviera erlebten: »Wir waren zuvor bereits Zeugen von Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur Pinochets geworden, aber eine derartige Gemeinschaft war uns noch nie zu Augen gekommen. Mitunter hatten wir den Eindruck, das alles könne und dürfe nicht wahr sein. Der Grund für unsere Bestürzung lag in den zutiefst abnormen und menschenverachtenden Herrschafts- und Gehorsamsstrukturen der ehemaligen ›Colonia Dignidad‹«. 79
    Gudrun und Wolfgang gehören zu den Ersten, die um Gespräche, Information und um Psychotherapie bitten. Sie hören aufmerksam zu. Irgendwann sagen sie: »An diesem Ort, an dem Blut klebt, wollen wir nicht bleiben.« Sie schreiben Briefe für die Gemeinde, die sie auch vorlesen: »Wir schütteln den Sand von unseren Schuhen.« Dann verlassen sie die Kolonie und das Land Chile, um nie wiederzukommen.
    Am 4. November 2005, nachmittags um 14.30 Uhr landen sie in Düsseldorf auf dem Flughafen. In einer Welt, die ihnen fremd ist.
    Auch Indianer kennen Schmerz 80
    Erst in Deutschland wagt Wolfgang, seiner Frau von den Vergewaltigungen und Misshandlungen durch Paul Schäfer zu erzählen, die stattfanden, bis Wolfgang 30 Jahre alt war. Nach seiner Flucht nach Argentinien hatte Schäfer Wolfgang – und vermutlich vielen anderen Männern – einen Brief überbringen lassen, in dem stand: »Wenn du darüber sprichst, was nachts war, lass ich dich umbringen. Wenn du diesen Brief gelesen hast, verbrenn ihn.« Dass er den Brief tatsächlich verbrannt hat, ärgert Wolfgang lange. Auch aus der Ferne besaß Schäfer noch viel Macht.
    Es ist ein furchtbares Kapitel in Wolfgangs Leben. Darüber zu sprechen, löst viele Gefühle aus; Scham, Wut, Hass sind nur einige davon.
    Viele Männer werden Opfer sexueller Gewalt 81 ; die wenigsten sprechen darüber. Über die Angst. Über den Ekel. Über den Schmerz. Über die Demütigung. Aber es gibt etwas, das nochmehr lähmen kann: Wenn es sich gut anfühlt, denken manche, es wäre keine Gewalt. Dann habe ich es gewollt. Sonst hätte ich keine Erektion bekommen. Oder? Bin ich also homosexuell? Ein Gefühlswirrwar und viele Irrtümer. Erziehungswissenschaftler Dirk Bange findet klare Worte: »Sexuelle Gewalt gegen Jungen hat (…) mit Homosexualität so wenig zu tun wie die Vergewaltigung eines Mädchens mit Heterosexualität.« 82 Es geht um Gewalt. In »Auch Indianer kennen Schmerz« berichten Bange und Ursula Enders, die Leiterin von »Zartbitter Köln« 83 , über Erkenntnisse aus der gemeinsamen Beratungsarbeit zu sexueller Gewalt gegen Jungen.
    »Wir kamen ja gerade erst in die Pubertät«, erzählt Wolfgang Müller zögernd. »Und dann merkten wir, dass das nach all den Schmerzen locker macht. Was ist denn das? Das macht ja so locker. Und der machte das immer wieder. Und irgendwann merkte man, dass es einen auch zog. Das ist ja das Verrückte, das Gespaltene. Wir mussten gespalten denken.«
    Sich aus dieser giftigen Mischung von sexueller Gewalt, Sehnsucht nach Liebe, von Folter, Befriedigung und Angst zu befreien, die in Paul Schäfers Reich herrschte, ist sehr schwer. Immer wieder geht Wolfgang zu einem Therapeuten, um sich auszusprechen und von seinem heutigen Alltag zu berichten. Der Therapeut empfiehlt Wolfgang, über die erlittenen Qualen zu sprechen, auch mit anderen. »Dabei können Sie nur gewinnen«, sagt er.
    Und so beginnen Gudrun und Wolfgang erst mit 60 Jahren eine Sprache für

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