Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
etwas sehen, für das der eigene Verstand kein Konzept hat. Doch ab 1956 beginnt Idas Abhängigkeit allmählich zu bröckeln. Als Schäfer die Grazer Gruppe akquiriert, gewinnt Ida langsam Abstand. Ihr Bild von Schäfer hat inzwischen deutliche Risse bekommen. Hin und wieder traut sie sich, ihm Kontra zu geben. So auch diesmal. Während Schäfer im Freien vor dem Zelt immer lauter, dramatischer, dämonischer betet und auf seine Schäfchen einredet, immer düsterere Prophezeiungen auf sie herniederprasseln lässt und während sie dabei immer kleiner und krummer werden, immer angstvoller schweigen, da geht Ida in die innere Emigration. Ein Bild formt sich in ihr. Schäfer spürt, dass sie sich entfernt, dass sie ihm entgleitet. Er spricht sie direkt an, fordert sie auf, ihre innersten Gedanken zu äußern. Da sagt sie es: »Ich werde den Gedanken nicht los, dass du bist wie Adolf Hitler.«
Ist das Mut oder ein Sündenbekenntnis? Beichte oder Angriff?
Alle schauen erschrocken auf. Dann blicken sie zu Paul. Was wird er sagen?
Paul sagt: »Gott offenbart durch dich, was die anderen hier denken.«
Was für ein Risiko geht er ein! Doch die Wirkung ist verblüffend: Keiner fällt vom Glauben ab, sie fühlen sich nur noch schuldiger. Er spielt auf der Gruppe wie auf einem Instrument, das er selbst gestimmt hat.
Schäfer fühlt sich stark. Zu Recht, denn sein Kreis erweitert sich. Im September 1956 schreibt er im Rundbrief Nr. 16:
Wir können noch eine sehr erfreuliche Nachricht mitteilen. – Ich sah vor einigen Jahren einmal ein Bild, und zwar ein Haus. Durch Gottes wunderbare Führung sind wir im Besitz eines solchen Hauses. Der jahrelange Wunsch hat sich nun endlich erfüllt. Wir haben eine Freizeitstätte, ein äußeres sichtbares Zentrum. Seit zwei Wochen bewohnen einige Geschwister schon unsere neue Heimat. 40
Das Grundstück in Heide bei Siegburg gehört nun also »uns«. Dieser Mitteilung hat Schäfer gleich eine nachträgliche Prophezeiung beigefügt: »Ich sah vor einigen Jahren einmal … ein Haus.« Einstweilen ist dort allerdings noch kein Haus, sondern nur ein Grundstück mit Baracke, das dem Kölner Anwalt Dr. Otto Nelte abgekauft wurde, der Verteidiger bei den Nürnberger Prozessen war. 41 Jetzt soll auch die Einrichtung von den Mitgliedern gespendet werden, und an den Wochenenden ist noch viel Arbeit vor Ort zu leisten: Ein neues Jugendheim wird erbaut. Außerdem ergeht eine Bitte an »die Träger der Kreuzgeschwister, die Überweisung pünktlich bis zum 2. jedes Monats vorzunehmen.« Auch neue Kreuzgeschwister sollen sich melden.
Handschriftlich lässt Paul Schäfer Ida zu ihrem Geburtstag dann noch »mit dem Wort aus Offb 2,10« grüßen.
Fürchte nichts von dem, was du leiden wirst. Siehe, der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen, auf dass ihr geprüft werdet, und ihr werdet Drangsal haben zehn Tage. Sei getreu bis zum Tode, und ich werde dir die Krone des Lebens geben.
An den Anfang des Rundbriefs setzt Schäfer ebenfalls ein Zitat aus der Apokalypse des Johannes:
Wer böse ist, der sei auch fernerhin böse und wer unrein ist, der sei auch fernerhin unrein, aber wer fromm ist, der sei auch fernerhin fromm und wer heilig ist, der sei auch fernerhin heilig. 42
In der Tat.
Am 31. Dezember 1956 ist der Verein gegründet, die Vereinssatzung steht fest, sie wird allerdings erst 1968 ins Vereinsregister eingetragen. Das eingetragene Ziel: »die Aufnahme gefährdeter und bedürftiger Jugendlicher, Hilfe für Minderbemittelte und Erholungsbedürftige, Verkündigung des Evangeliums«. Am 27. Juli 1957 sind siebzehn Kinder und Jugendliche als Heimbewohner beim Kreisjugendamt gemeldet. Dabei gibt es noch gar kein Heim, nur eine Baracke. Und die siebzehn sind auch keine Waisen, sondern Kinder der Sektenmitglieder. Einer von ihnen ist Ernst-Wolfgang Müller (später Kneese). Bis dahin lebt er in Hamburg. Seine Mutter, die in Bonn als Sekretärin im Verteidigungsministerium arbeitet, übergibt ihn Schäfer 43 zur Erziehung. Ein anderer ist Hartmut Hopp.
Im Dezember 1957 besucht die erste Kreisfürsorgerin die Gemeinschaft, die einen guten Eindruck auf sie macht, wie sie notiert. Beim nächsten Besuch das gleiche Bild. 44
Nun hat Schäfer seinen sicheren Ort.
KAPITEL 5
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Verführung
1958
Politik: Kalter Krieg der Supermächte; Massenkundgebungen gegen atomare Aufrüstung; Atomtests im Pazifik.
Gesellschaft: 100 Jahre Mutter Gottes in Lourdes;
»Wunderheiler« Bruno Gröning wegen
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