Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
sauberes kleines Häuschen. Gudrun wohnt zwar im Jugendheim, ist da aber nicht gemeldet. Lilli wohnt überhaupt nicht hier, sondern weiterhin in Gronau bei ihren Eltern, und kommt an den Wochenenden her. Im Schweinestall hockt sie nur, um Gudrun und den anderen Mädchen in ihrem VersteckGesellschaft zu leisten. Sie flüstern miteinander und erzählen sich Witze. Dann fragt eine: »Wen würdet ihr später heiraten?« Renate Müller sagt: »Wenn ich später mal heirate, dann möchte ich den Wolfgang Müller haben.« Alle kichern. Rita schwärmt für Manfred Skrabs. Marlies findet Ernst-Wolfgang Kneese interessant. Ein Spiel unter Mädchen, unbeschwert, vertraut, bedeutungslos. Keiner der Jungen hat eine Ahnung von den Gefühlen der Mädchen. Nie würden die es ihnen sagen.
Als Lilli wieder einmal ein Wochenende im Jugendheim verbringt, kommt eine Postkarte an von Rita. »Du hast es gut«, steht auf der Rückseite. Paul Schäfer hat sie schon gelesen. Was das bedeutet, will er wissen. Lilli druckst herum, will es nicht sagen. Er besteht darauf. Nach längerem Verhör gibt sie preis, dass Rita gern hier wäre, weil sie dann einen Jungen sehen könnte, den sie mag. Manfred Skraps.
Sie hatten alles gemeinsam. Nein, nicht alles. In der Baracke leben Männer und Frauen getrennt. Johannes Bechtloff erfährt, dass es auch im neuen Jugendheim einen Männertrakt und ein Haus für Mädchen und Frauen geben wird. Und einen dritten Trakt mit Schäfers Domizil. An den ist der Jungen-Trakt angegliedert. Bisher wundert sich keiner über diese seltsame Anordnung.
Sonntags steht Schäfer mit der Bibel in der Hand da und liest Gottes Wort vor. Das allein flößt seiner Gemeinde ein solches Vertrauen ein, dass es für sie unmöglich ist, etwas anderes dabei zu denken.
Nicht einmal die, die sehen, wie Schäfer die heranwachsenden Jungen wäscht und badet, wundern sich. Auch nicht, als sie beobachten, wie die Kinder morgens aus Schäfers Bett krabbeln. Schäfer ist erhaben über irdische Dinge. Er ist der Schäfer, der Hirte, er ist nicht der Wolf. Er ist heilig.
Johannes Bechtloff hat sich nie verziehen, dass er Schäfer damals nicht durchschaut hat. Der alte Mann kann den jungen Mann von damals nicht mehr verstehen. Jenen jungen Mann, der 1958 voller Begeisterung Schäfers Ideen umsetzt und dessen Aktionen mit allen Kräften unterstützt. Wie die Tonfilm-Missionswoche im Saal des Kaiser-Wilhelm-Museums in Krefeld 1958, über die ein Regionalblatt schreibt:
Junge Missionare des christlichen Glaubens – 60 Jungen und Mädchen traten wie an vielen anderen Orten Deutschlands auch in Krefeld an die Öffentlichkeit, um … vor allem die Jugend durch überzeugende Filme zu den tieferen Werten des Lebens hinzuführen.
Vor dem Posaunen- und Liederchor, zu dem auch Gudrun gehört, haben sich Hermann Schmidt, Paul Schäfer und Johannes Bechtloff für die Kamera des Pressefotografen aufgebaut. Der Artikel zitiert Bechtloffs Worte, »dass der Mensch mehr denn je darauf bedacht sei, sein Tiefstes und Innerstes vor dem Nächsten zu verbergen«. Das ist natürlich O-Ton Schäfer, der alles daransetzt, sein Innerstes zu verbergen, und dasselbe auch bei seinen Mitmenschen vermutet. Man könnte es Projektion nennen. Spannend zu beobachten, wie dieser Prozess jene tiefe Sehnsucht nach Offenheit bei Bechtloff entzündet.
Zu der Veranstaltung müssen die jungen Leute des Posaunen- und Liederchors eine Woche lang jeden Abend von Siegburg nach Krefeld trampen und nach dem Ende der Veranstaltung wieder zurück. Manchmal kehren sie erst in den Morgenstunden heim und müssen sofort zur Arbeit. Oft tun Gudrun die Füße weh, und sie kann kaum mehr gehen vor Müdigkeit. Aber da ist die Angst vor dem strafenden und brüllenden Schäfer-Gott, wenn man es nicht schafft. »Du bist selber schuld«, schreit er, »sicher hast du die Pest!« Oder er schreit: »Du hast sie sitzen!« Was meint er damit? Die Teufel? Schäfer kann sich jetzt schon darauf verlassen, dass die Angstfantasien seiner Anhänger das ergänzen, was ihm an Worten fehlt.
Nichts davon wird in der Öffentlichkeit wahrgenommen, auch das Regionalblatt ist voll des Lobes über die »Hilfe für junge gefährdete und Hilfe suchende Menschen … Die Jugendmissionsgruppe baut an ihrem Sitz in Heide ein Jugendheim für 120 Jugendliche, das für diese den Start in ein neues Leben bedeuten wird.«
Dass die Jugendlichen gerade in diesem Heim ganz besonders gefährdet sind, ahnt keiner. Damals nicht. Und bei
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