Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
sind und keine Bedenkzeit haben. Als Erster unterschreibt Paul Schäfer. Dann die »Herren«: Willi Georg, Alfred Schaak, Herbert und Horst Münch, Gerhard Mücke. Dann, ehe sie sich versehen, auch die »Schwestern«: Brigitte Baak, Brigitte Kram, Helga Habek, Ida und Gertrud Ritz.
Aber was bedeutet das nun?
Es bedeutet, sagt Schäfer, dass jede und jeder für ein Jahr das Kreuz auf sich nimmt und es für den Herrn, für Jesus Christus, trägt. Sie sind die sogenannten Kreuzträger. Die Kreuzler. Die Vorzeige-Christen.
In zwei Jahren wird auch die Familie Wagner dazugehören.
Konkret bedeutet es, dass alle gehen müssen, wann und wohin Paul Schäfer will. Dass jeder und jede dort ein Jahr lang arbeitet, für ein Gehalt, das Paul Schäfer allein aushandelt, kennt und einsteckt. Es bedeutet, dass keine Sozialversicherung gezahlt wird. Sie sind jetzt Leiharbeiter ohne eigenes Einkommen. Die verheirateten Männer beruhigt Schäfer mit den Worten: »Für die Familien wird gesorgt.« Wie, das sagt er nicht. All das haben sie nun unterschrieben.
Ida wird nach Allenbüttel geschickt zur Familie Schmidt, die einen Laden besitzt und zu Schäfers Gemeinschaft gehört. Ida versorgt den Haushalt und hilft im Geschäft. Ihr Gehalt geht direkt an Paul Schäfer bzw. an Alfred Schaak. Wie hoch es ist, weiß sie nicht.
Schäfers Unterschrift auf diesem Vertrag ist Makulatur, nur ein strategisches Manöver, um die anderen zu verleiten, es ihm nachzutun. Er bekommt sowieso alles und muss nichts geben. Der Drogist Alfred Schaak ist Kaufmann und übernimmt Geschäfte und Verwaltung der Gemeinschaft. Der Zehnte, die Gehälter und sämtliche Spenden werden an ihn überwiesen. Schon bald sind die Finanzen unübersichtlich; niemand außer Schaak und Schäfer hat Einblick und weiß Bescheid. Als Erstes schaffen sie sich einen weiteren VW -Bus an. Alle sind voller Freude: Sie sind auf dem rechten Weg. Schäfer geht strahlend mit ausgebreiteten Armen auf Willi Georg zu und sagt: »Siehst du, Willi, das bist du schuld, dass wir uns diesen Wagen kaufen konnten.« 39
Der Begriff der Schuld ist zentral im Christentum. Christus’ Tod am Kreuz befreit die Christen von der Schuld der Erbsünde. Schuld ist negativ, so sehen es auch Christen. Das ist Schäfer zweifellos vertraut. Dennoch spricht er hier von Schuld statt von Verdienst. Warum kehrt er den Begriff in sein Gegenteil? Erbeschmutzt die Leistung. Oder soll das ein Scherz sein? Diese Formulierung benutzt er immer wieder gern, wenn jemand Gutes bewirkt hat. Oder ist ihm Lob nur zuwider, wenn er selbst nicht der Gelobte ist? Gefühle von Schuld spüren viele seiner Opfer bis heute, so tief, als hätte er sie ihnen mit einem Brandeisen eingebrannt.
Im Frühjahr 1956 richten die vereinzelten Kleingruppen, die sich bislang um Schäfer und Baar geschart haben, ihre freudigen Erwartungen auf die Sommerfreizeit im August in Groß Schwülper an der Oker. Dort, wo Paul Schäfers Schatten zum ersten Mal auf Wolfgang fällt. Wo Wolfgang zum ersten Mal Gudrun sieht.
Während die Familie Wagner mit voller Kraft voraus in den scheinbar sicheren Hafen der Schäfer-Gruppe segelt, hingebungsvoll auf ein intensiveres Christentum hoffend und blind für alle Irritationen, gehen andere allmählich auf Abstand. Wie Ida Ritz. Als sie Gudrun Wagner und deren Familie 1956 auf der Zeltmission in Groß Schwülper zum ersten Mal trifft, gehört sie seit acht Jahren zum engeren Kreis um Paul Schäfer. In dieser Zeit hat sie miterlebt, wie Schäfer eine verschworene kleine Gruppe um sich schart, wie er Menschen erniedrigt, hörig macht und für sich arbeiten lässt. Trotzdem ist sie immer noch dabei.
Ida ist nun 22 Jahre alt. Auch diese Freizeit hält sie noch im Bild fest: Mittendrin steht die vierzehnjährige Gudrun in ihrem schwarz gepunkteten weißen Sommerkleid, um sie herum eine Gruppe von etwa 25 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. In diesem Jahr hat Gudrun die Schule beendet und eine Lehre als Verkäuferin begonnen. Schüchtern lächelt sie hinter dem Rücken eines Jungen hervor – vielleicht ist das Alfred, Gudruns Schwarm? Der kleine rothaarige Wolfgang Müller taucht nicht auf, sein kurzer Besuch hinterlässt nur bei Paul Schäfer einen Eindruck.
Lange Zeit begreift Ida nicht, was wirklich vor sich geht. Sie sieht, was geschieht, aber sie kann es nicht verstehen, weil die Zeit voller Tabus ist. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weilman lieber seinen eigenen Augen nicht traut, wenn diese
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