Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Tag, auch sonn- und feiertags. Später wird in Tag- und Nachtarbeit noch eine Schule erbaut. Mehrere Jahre hindurch erleben sie Großeinsatz in allen Bereichen. Dazu müssen sie Geld verdienen und sei es durch den Verkauf frischer oder eingekochter Brombeeren und Hagebutten.
Im zweiten Jahr wird ein Kanal angelegt, und wieder müssen alle zusammen Steine sammeln. Jung und Alt. Frauen und Männer. Kinder. Der Bagger durchwühlt den Boden, um die Steine freizulegen. Sie nennen es den Steinacker. Drei Monate lang Steine sammeln, in glühender Hitze, bis zu fünfzig Grad, ohne Kopfbedeckung.
Wolfgang weiß, wie man richtig hebt: in die Knie gehen und dann mit der Last wieder hoch, das schont den Rücken. Da kommt Schäfer und sagt: »Du machst das falsch, du musst den Rücken beugen und die Knie gerade lassen.«
Während Schäfer hinschaut, folgt Wolfgang dem Befehl. Ist er weg, geht Wolfgang wieder in die Knie. So bleibt sein Kreuz heil. Wenigstens das. Aber dafür wird es zwei-, dreimal am Tag blau geschlagen, weil er sich widersetzt und nicht so hebt, wie Schäfer es will.
»Wenn das Kreuz jung ist, biegt es sich noch«, sagt Schäfer, der diese gebeugten Rücken gerne sieht. Die meisten Kolonisten bekommen schwere Rückenschäden.
Wolfgang hatte von seinem Fußballtrainer rückenschonendes Heben gelernt, dem traut er mehr als Schäfer, deshalb hebt er weiterhin aus den Knien heraus.
»Geh mal da hinten hin und hol Wasser für den Motor«, sagt der Baggerfahrer plötzlich zu ihm. Der 16-jährige Wolfgang weiß, dass der luftgekühlte Motor des Baggers kein Wasser braucht. Aber er hat gelernt, zu gehorchen, ohne zu fragen. Er geht zu den Büschen am Wasser. Dort wartet ein Mann auf einer Bank, derihn prügelt. Beim zweiten Mal weiß Wolfgang nun, wofür »Wasser holen« steht. Aber unbeirrt hebt er die Steine weiter auf seine Art. Und zwei-, dreimal am Tag geht er Wasser holen.
So funktioniert die Befehlskette: Schäfer gibt eine Anweisung. Der Baggerführer überwacht die Ausführung. Ist sie nicht korrekt, schickt er die Jungen zu einem dritten Mann, der den Auftrag hat zu prügeln. Die Bestrafung wird in Einzelsegmente unterteilt, keiner trägt die Verantwortung.
Schon die Milgram-Studie zeigte 1961 53 , dass es vielen von uns nicht schwerfällt zu foltern, wenn eine Autoritätsperson es befiehlt und man den Gefolterten nicht sieht.
Bis jemand den Befehl hinterfragt.
Eines Tages fragt der Mann am Ende der Befehlskette Wolfgang: »Wofür kriegst du eigentlich die Prügel?« Und Wolfgang antwortet: »Weil ich die Steine aus den Knien heraus hebe, statt mich zu bücken.« Da sagt der Mann: »Dann gehen wir mal schön da hin, und du legst du dich eine Weile auf die Bank, bis ich das normalerweise durchgeführt hätte, und dann gehen wir wieder zurück.« Hinterher nimmt Wolfgang seinen Wassereimer und geht zum Bagger zurück. Und beide haben sich einen kurzen Moment ausgeruht.
Auf diesen Moment, in dem er sich traut, Schäfer Widerstand zu leisten, ist Wolfgang heute noch stolz. Er tut es heimlich. Aber dennoch: Er gehorcht nicht.
KAPITEL 11
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Das Paradies
1966
Politik: APO formiert sich – Demos gegen Vietnamkrieg;
Notstandsgesetze; Franz-Josef Strauß Finanzminister.
Gesellschaft: Jürgen Bartsch (19) wegen Mordes an vier Jungen verhaftet.
Im Kino: Dr. Schiwago (Omar Sharif, Julie Christie);
Abschied von gestern (Regie: Alexander Kluge).
TV : Raumpatrouille Orion .
Literatur: Kaltblütig (Truman Capote).
Hitparade: Marmor, Stein und Eisen bricht (Drafi Deutscher);
Hundert Mann und ein Befehl (Freddy Quinn).
Spruch des Jahres: Jetzt sind wir populärer als Jesus (John Lennon).
»Das Graubrot wird nicht morgen, sondern übermorgen gebraucht«, sagt das Mädchen. Sie sagt es laut vor sich hin: »Das Graubrot wird nicht morgen, sondern übermorgen gebraucht. Das Graubrot …«
Vier Jahre ist die Kleine alt. Genauso alt wie der Junge, den sie an der Hand hält. Nebeneinander gehen die beiden den Anna-Weg, einen schnurgeraden Betonweg, entlang. Vom blauen Himmel eines Frühlingstages strahlt die Sonne herunter und wärmt die Kinder. Die Weinranken der Pergola über ihnen bieten ein wenig Schutz. Ein leichter Wind bewegt die gelbe Blütenpracht wilder Mimosenbäume in der Ferne.
Die beiden sind auf dem Weg zur Bäckerei, dort soll das Mädchen ihre Botschaft abliefern. Das hat ihr die Frau im Küchentrakt aufgetragen. Mit vier Jahren hat die Kleine noch keine Vorstellung von »übermorgen«, also muss sie
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