Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
und Formulierungen werden vorgeschrieben, viele Briefe sind fast gleich lautend. Sie sagen nichts darüber aus, wie es den Menschen wirklich geht, was sie beschäftigt und was dort tatsächlich geschieht.
Wolfgang Müller weiß nicht, ob Gudrun auch nach Chile kommen wird. Er hat keine Möglichkeit, es herauszufinden. Gudrun Wagner bleibt weiterhin in Siegburg. Sie weiß nicht, wie lange. Sie weiß nicht, warum. Sie vermutet, es hat mit Alfred zu tun, der in Chile ist. Mit ihren Geschwistern in Chile hat sie keinen Kontakt. Mit ihren Eltern in Graz immer weniger. Die Grazer fallen in Ungnade, weil sie sich widersetzen. Davon erfahren die Geschwister in Chile jahrzehntelang nichts.
Drei Welten sind inzwischen entstanden, die nichts voneinander wissen. Wenn es trotzdem zu kurzen Kontakten kommt, verstehen sie einander kaum noch.
Chile nimmt die Deutschen gerne auf, die Empfehlung des chilenischen Botschafters in Deutschland, Arturo Maschke, ist viel wert. Die Deutschen versprechen Hilfe nach einer Naturkatastrophe: Das schwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts ereignete sich am 22. Mai 1960 in der Provinz Valdivia im Süden Chiles. Es löste einen Tsunami aus, der im Pazifik bis nach Hawaii große Zerstörung anrichtete. »Gebirgsprofile verrutschten bis zur Unkenntlichkeit, Küstenstreifen wurden ins Meer gespült. Inseln versanken im Ozean, neue tauchten auf. Zwei Millionen Menschen wurden obdachlos – ein Viertel der Bevölkerung Chiles. 6000 Menschen kamen bei den Beben, von denen das heftigste als ›Weltbeben‹ registriert wurde, ums Leben«, schreibt der Spiegel am 8. Juni 1960 52 . Ein Weltbeben ist so stark, dass es von Seismografen auf der ganzen Erde registriert wird. Den von diesem Erdbeben betroffenen Chilenen wollen die Deutschen um Paul Schäfer helfen. Allerdings siedeln sie sich fünfhundert Kilometer oder neun Fahrstunden von den Erdbebengebieten entfernt an.
Pfadfinderträume
Am Dienstag, den 27. Juni 1961, um 15 Uhr landet Wolfgang Müller aus Lutter am Barenberge in Santiago de Chile. Als der Vierzehnjährige und seine kleine Gruppe Chile erreichen, ist auch Schäfer gerade auf dem Flughafen. Er muss nach Argentinien fliegen, um eine neue Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Als die Jungen hören, dass Er da ist, sind sie aufgeregt, wollen ihn überraschen und verstecken sich. Suchend schaut Schäfer sich um, das Spiel bringt ihm und den Kindern Vergnügen. Er macht ein Spektakel aus der Suche, bis er Wolfgang hinter einer Säule entdeckt. »Ach, da bist du ja«, sagt er. Und fügt hinzu: »Endlich!« Eher der Stoßseufzer eines sehnsüchtigen Liebhabers als die Begrüßung eines erwachsenen Betreuers.
Schäfer fliegt nun nach Argentinien, die Gruppe bleibt noch eine Woche in der Hauptstadt, dann transportiert man sie dreihundert Kilometer nach Süden in die Provinz Linares, in der Region Maule. 35 Kilometer entfernt von der nächsten größeren Stadt, an einer Biegung des Perquilauquén-Flusses, lassen sie sich nieder – wie man so sagt. Von einer Niederlassung kann aber nicht die Rede sein. Weder ist Zeit zum Ausruhen, noch gibt es eine Unterkunft. Einige Jungen sind schon da. Sie hausen in Zelten. Es ist mitten im Winter und sehr kalt. Weitere Zelte werden aufgebaut. Ein Schlafzelt und ein Werkzeugzelt.
Der Landbesitz trägt den Namen »Fundo El Lavadero« und wird für 34 000 DM gekauft. Bald sprechen sie vom »Fundo«, wenn sie ihre neue Heimat aus anfangs dreitausend Hektar Wildnis mit ein paar Bruchbuden darauf meinen. Die Bruchbuden sind so verfallen, dass sie die ersten vier Wochen in Zelten wohnen.
Nach seiner Rückkehr besorgt Schäfer einen Kupferkessel, die Jungen suchen Steine, machen Feuer, kochen. Dann beginnt der Regen. Zum nächsten größeren Ort, nach Parral, können sie nicht, sie haben kein Auto. Nur Schäfer hat einen Wagen. Damit fährt er einige Male nach Santiago und kommt mit der nächsten Gruppe zurück.
Trotz vier Wochen Dauerregens: Es ist ein Pfadfindertraum.
Nachts gehen sie mit Flinten und Autohandscheinwerfern auf Kaninchenjagd. Morgens gehen sie schlafen und nachts wieder jagen. Zwischendurch kommt ein Nachbar vorbei, ein Südtiroler, bringt selbst gebackenes Brot. Nach sieben Wochen taucht ein Italiener auf, Don Vittorio, und bietet ihnen an, in ein Haus in der italienischen Siedlung zu ziehen. Für vier Wochen nimmt Schäfer das Angebot an, und sie entkommen dem Dauerregen. Um zu ihrer Arbeit zu gelangen, müssen sie nun zweimal täglich über eine
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