Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
baufällige Brücke klettern, ein halsbrecherischer Balance-Akt hoch über dem Lavadero-Fluss, der ihrer neuen Heimat den Namen gibt.
Zuerst wird das Kinderhaus erbaut. Wolfgang Müller macht den Zimmermann. Mitte September ist das Haus fertig, eher ein Holzschuppen, von außen noch nicht verschalt. Da beginnen sie schon, das Zippelhaus zu bauen, das Gemeinschaftshaus, um einen Saal für alle zu haben. Sie legen Wege an und beginnen, die Umgebung urbar zu machen. Erfahrung konnten sie in Siegburg sammeln. Aber dies hier ist Urwald.
Vierzig Jahre später sehen sich Ernst-Wolfgang Kneese und Wolfgang Müller wieder. Die gemeinsam erlebte Anfangsphase haben sie in sich gespeichert und können übergangslos die Atmosphäre von damals spürbar machen:
Ernst-Wolfgang Kneese: Da stehe ich alleine mitten im Urwald, ohne Vater und ohne Mutter, nur mit einer durchgeknallten Gruppe von Baptisten, die der Meinung sind, sie müssen das Ganze jetzt in irgendeine urbare Form verwandeln, aber wie lange soll die Scheiße denn dauern? Soll ich mir da Nägel in den Fuß treten und Dornen in die Hände reißen und dann diese Schwielen, wir arbeiten ja wie die Wahnsinnigen. Auf Schlaf wird keine Rücksicht genommen, auf Sauberkeit wird keine Rücksicht genommen, auf Privatsphäre wird keine Rücksicht genommen. Wir sind eingepfercht in einen riesengroßen Galpon, eine Lagerhalle.Morgens putzen wir uns im kalten Wasser des Perquilauquén die Zähne mit einer Paste, die irgendwer selber mit Kies oder mit Schlämmkreide und mit Pfefferminzgeschmack zusammengemischt hat. Schuhe, die nicht passen, Klamotten, die nicht passen. Es gibt wirklich nicht einen einzigen Grund für mich, dort auch nur einen Tag länger zu bleiben.
Wolfgang Müller: Wollen wir mal etwas sagen zur Sauberkeit. Da waschen sich zwanzig Jungens in einer Holzschüssel. Da steckt jeder den anderen an.
Ernst-Wolfgang Kneese: Da fängt das an, dass ich merke, wir sind belogen worden. Nichts von dem, was uns versprochen wurde, finden wir vor. Keine Schule, keine Ausbildung, kein wunderbares Paradies. Wir müssen Stämme aus dem Wald schleppen, bevor wir die erste Blockhütte bauen können. Eigentlich sind wir als karitative Organisation nach Chile gegangen, und unsere erste große Aufgabe soll sein, den Opfern des Erdbebens von 1960 Hilfe zu leisten. Bis auf den heutigen Tag haben wir nicht einem einzigen Opfer dieses Erdbebens geholfen. Als wir ankommen, sind wir selber hilfsbedürftig. Wir haben kein Dach über dem Kopf. Wir campen in Zelten wie die Indianer. Vier Wochen lang bei Regen. Wir haben einen großen Kupferkessel in der Mitte, darin kochen wir uns Suppe. Die Fleischeinlage muss in der Nacht zuvor mit der Schrotflinte geschossen werden.
Wolfgang Müller: Die Milchsuppe ist blau. Das ist nämlich Trockenmilch mit mehr Wasser als Milch.
Ernst-Wolfgang Kneese: Und wir müssen diesen Tieren auch noch das Fell abziehen, sie klein machen und braten. Aber mit 15 Jahren haben wir kein Interesse, zum Schlachter ausgebildet zu werden. Beim Essen beißen wir auf Schrotkugeln, dass uns die Plomben wegfliegen. Auf Geruchsentfernung ist der Donnerbalken konstruiert. Wenn der Wind schlecht steht, hast du nicht nur die blaue Milchsuppe, dann hast du auch die Düfte von Exkrementen in der Nase. Und der Regen von oben. Was interessiert mich, da in den Urwald zu gehen und Bäume zu schlagen und Häuser zu bauen? Bin ich denn bescheuert? Ichhabe keine abgeschlossene Schulausbildung und keine Berufsausbildung. Darüber wird gar nicht mehr geredet.
Wolfgang Müller: Ich habe ihn mal danach gefragt. »Nein, gibt es nicht«, sagt er. »Wenn du das willst, musst du studieren gehen; ob du das Geld hast, musst du selber wissen.«
Ernst-Wolfgang Kneese: Anderen sagt er: »Hat Jesus Christus studiert?« Mit solchen Plattituden wird man mundtot gemacht. Und der durchgeknallte Typ erwartet von mir, dass ich den Rest meines Lebens im Busch verbringe.
Wolfgang Müller: Darüber haben wir beiden Wolfgangs und der Heinz mal gesprochen. Wir waren uns einig. Wir hauen ab.
Ernst-Wolfgang Kneese: Am Anfang kann man noch miteinander reden. Da ist man mit dem Aufbau beschäftigt. Es gibt noch keine Zäune, du kannst einfach raus und rein.
Wolfgang Müller: Weißt du noch, als der Teppi kam, der Südtiroler? »Ich bin Tiroler, wollt ihr Brot?« Die haben sich alle bemüht um uns.
Ernst-Wolfgang Kneese: Dann tropft der Regen durch das Dach, Eimer werden aufgestellt und Wannen. Habe ich denn
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